10.08.2021 Dienstag
Irgendwann gestern Abend, als die letzten Badegäste längst gegangen waren, überkam die wilde Meute, die bis spät abends noch die Beschleunigung ihrer fahrbaren Untersätze in der Nachbarschaft testete und sich Rennen lieferte, doch die Müdigkeit. Irgendwann war Stille. Gut geruht blicken wir nun in einen blauen Morgen, der nach Badeklamotten schreit. Die erste Damen-Riege stürzt sich schon in die Fluten, ein allein schwimmender Herr kommt später. Ich las irgendwo, dass hier im Baltikum ein abendliches Baden im See zum Tagesablauf gehört, scheinbar auch das Morgen-Bad. Herrlich. Also wie starten wir? Kaffee oder Bad? Beides zugleich. Der Luxus.
Und wieder können wir nur staunen, wie die Gegend hier hergerichtet ist. Aussichtskuppen mit Skulptur, Umkleiden aus Holz gibt es, Mülleimer genügend, Plumsklo, wie oft anzutreffen mangels durchgängiger Kanalisation, sogar ein Kaffeeautomat steht hier, der gut und gern genutzt wird, wie wir beobachten.
Unsere Überlegung, noch einen Tag zu bleiben, immerhin haben wir sonnige 28 Grad, verflüchtigt sich irgendwie. Reiselust ist einfach stärker, und irgendwie zieht Lettland, hier so nah an der Grenze. Wir püngeln also zusammen und fahren. Bei Durchfahrt durch das angrenzende größere Örtchen Zagarė rächt sich das. Meine Güte, ist das schön hier. So lauschige einzigartige Häuser und Ecken, einfach toll und niemals erwartet, so im Grenzland. Hier hätte sich ein Rumfahren mit dem Rad wirklich gelohnt. Müssen wir uns merken für die Rückreise oder ein anderes Mal.
Kaum hinterm Ortsausgang Gas gegeben und nur eine Minute später sehen wir das Schild „Latvija“, passieren völlig unspektakulär die Grenze ohne eine Menschenseele zu sehen und sind in Lettland. Später, genauer gesagt 3 Stunden später bei Erreichen unseres ersten Ziels in Lettland, hören wir Gott sei Dank eine ankommende SMS, wir werden gebeten, uns online zu registrieren. Also sind die Masten noch aktiv und nicht nur Pappkameraden. Eine einfache Sache ist die Registrierung, Name und Ausweisnummern eintragen bei Vollimpfung, abschicken, und sofort ist der QR-Code angezeigt. Absolut problemlos.
Und sofort bessert sich der Straßenzustand. Auch das hätten wir nicht erwartet. Auf babypopoglattem Asphalt gleiten wir dahin, vorbei an großen Ackerflächen, kleinen Gehöften mit viel Nutzgarten, Störchen und eigentlich kaum Ortschaften. Allerdings liegen einige riesige Gestüte und Kuhställe an der Strecke, einiges wirkt sehr ordentlich und neu, anderes eher bedenklich.
Auffällig sind die vielen Türme und Masten, vermutlich aus Sowjetzeiten, die vor sich hin gammeln. Immer mal wieder tauchen zwischen üppigem Blumenschmuck auch kasernenmäßige Bauten auf, kurz vorm endgültigen Zerfall, oder doch noch irgendwie von der Bevölkerung nutzbar. Insgesamt haben wir das Gefühl, durch militärisches Gebiet zu fahren, schnurgerade Straße, flache einsehbare Flächen, Wälder gestutzt, diese Masten, Ausgucke und Wachtürme, ganz eigentümlich. Wären Zäune sichtbar, der Eindruck wäre perfekt. Irgendwann liegen schäbige Wohnsilos an der Straße, Putz bröckelt, alles aschfahl, Wäsche flattert, Kinder spielen, ältere Menschen gehen gebückt, der Mann vorneweg, die Frau mit Kopftuch, Gedanken an Marokko werden wach. Ärmlich sieht manches aus, verschlossen die Gesichter, wobei diese Wohnsituationen auf uns erheblich schrecklicher wirken als das Leben in den Lehmksaren Marokkos.
Zur Landschaft Litauens erkennen wir nun keinen nennenswerten Unterschied auf den 140 Kilometern, die wir bis zum nächsten Ziel Kuldiga haben. Aber die Bebauung ist eben sehr viel anders. Während Wim noch genussvoll zurückgelehnt den perfekten Straßenzustand genießt, und diesen lobend erwähnt, ist es auch schon passiert: Baustelle. Eine Ampel, sogar mit Angabe der Wartezeit, bremst uns aus in unserem Flow. Rüdigers Navigierung geht nicht mehr auf, er ereifert sich mit „bitte wenden bitte wenden“. Dennoch erreichen wir komplikations- und rüdigerlos unser Ziel und biegen vor der berühmten Backsteinbrücke Kuldiga nach rechts ab auf einen PP mit Blick auf zwei Zwiebeltürmchen, die die Bäume gerade so überragen, und die Auen des Venta, der die eigentliche Attraktion des Städtchens ist. Aber dazu morgen mehr, wenn wir uns per Rad darum kümmern.
Für heute ist Feierabend. Ein Gewitter kracht hernieder, es hagelt, außerdem herbstet es schon sichtlich, die Ebereschen zeigen Gold rund um ihre glutroten Beeren. Das Abendrot passt sich an. Wenn nun die Burschen mit ihren hochtourigen Boliden nicht allzu doll heute Abend und nachts auf diesem wohl beliebten Sammel- und Balzplatz agieren, kann es eine ruhige Nacht an einem schönen Fleckchen werden. Mal sehn.
11.08.2021 Mittwoch
Man war wohl nachts der Ansicht, man müsse uns mal einen Rahmen geben. Bazou schlug an gegen 3 Uhr, ein Auto stand direkt vor unserer Motorhaube, brüllend laute Musik, und ein Geräusch war hörbar, ein „klack“. Komisch, provokativ, jedenfalls so, dass Wim es genügte, dass der Hund bellte, er durch sein Erscheinen draußen den Typen nicht noch unnötige Aufmerksamkeit schenken wollte. Dann war‘s auch still, sie waren verschwunden. Heute morgen Jalousie geöffnet, siehe da, ein alter Bilderrahmen klemmt unter unserem Scheibenwischer. Ansonsten ist nichts „passiert“. Warum tut man so etwas? Dumme-Jungen-Streiche? Betonung auf „dumm“? Warnung für uns? Oder einfach Idioten? Randalierer? Gefrustete? Wim ist jedenfalls stinksauer. Er möchte hier, wo man anscheinend nicht willkommen ist, nichts mehr angucken. Ich male auf diesen Bilderrahmen einen „Stinkefinger“, hat zwar pädagogisch keinen Sinn oder Wert, aber mir geht‘s leicht besser. Den Rahmen lehnen wir an das Geländer und fahren ab.
Die 164 m lange Backsteinbrücke über die Venta besuche ich kurz. Mit ihren sieben Bögen auf Feldsteinpfeilern galt sie damals nach Errichtung im Jahr 1874 nicht nur als größte und prachtvollste Brücke in Lettland, sondern als eine der modernsten Brücken in Europa. Von den Leistungen im Brückenbau zeugte damals die Brückenbreite, die die Fahrt zweier entgegenkommender Kutschen ermöglichte.
Unten im Fluss liegt die weitere Attraktion der Stadt: Ventas Rumba, die Stromschnellen, Europas breiteste Stromschnellen, über 100 m breit und bis zu 2 m hoch. Jeden Herbst und Frühling kann man hier fliegende Fische beobachten, wenn nämlich die laichenden Fische versuchen, über den Wasserfall flussaufwärts zu gelangen. Angeblich lassen sich täglich an die 100 Lachse im Flug fangen.
Nach diesem Fotostopp verlassen wir Kuldiga. Der nachgesagte museale Flair und das historische Erbe bleiben uns verborgen und die P108 mit tadellosem Asphalt lässt viel Raum auf schnurgerader Strecke, über Lettland und die Menschen hier nachzudenken, während sich der Himmel immer mehr verdunkelt, irgendwann ein Gewitter niederprasselt und die 26 Grad auf 14 runterkurbelt. Lettland, Lettland, Du wirst Dich anstrengen müssen.
Die 70 km heute zum nächsten Ziel Hafenstädtchen Ventspils an der Ostsee sind zügig gefahren, so dass wir schon gegen Mittag einlaufen. Aber welch ein Einlauf ist das denn jetzt hier? Wahninn! Extrem sauber, farbenfroh und außergewöhnlich empfängt uns diese Stadt. Durch Alleen mit meterhohen uralten Bäumen im akuraten Formschnitt und überbordend bepflanzten Beeten und Kästen und Töpfen und Trögen finden wir den richtigen Weg zum Hafen.
Hier auf einem großen PP, direkt hinter der Ostseedüne, soll Übernachten erlaubt sein. Wie schön, direkt an einer Hafeneinfahrt gibt‘s immer viel zu gucken. Etliche Menschen sind hier, parken, spazieren an den Strand oder die Hafenmauer entlang. Ein guter Platz für uns. Einparken, ausrichten, freuen.
Da es wieder sehr sonnig ist und das Gewitter sich verzogen hat, rüstet Wim die Räder. Eigentlich wollen wir nur eine kurze Runde drehen, aber daraus wird eine längere, denn das Städtchen ist so unsagbar schön und reizend, dass es uns wirklich in den Bann zieht. Aber zunächst radeln wir am Hafenbecken entlang zum Leuchtfeuer, am Strand leider nur gucken, da Hundeverbot.
Dann in die andere Richtung, immer dem Kai folgend, an kleinen Fischerhäuschen und noblen Residenzen vorbei. Eine sehr tolle Mischung und überwiegend in tadellosem Zustand. Und überall Farbe. Überall. Und überall Skulpturen. Überall. Und überall Radwege. Überall. Und breit. Und eben, absolut eben.
Was für ein toller Ausflug hier durch die Straßen und Gassen mit Kopfsteinpflaster. Welch lauschige Plätze überall. Bänke in allen möglichen Variationen überall. Es klingt euphorisch, vielleicht übertrieben, aber es ist so, man kann es einfach nicht anders schildern.
Diese Weite überall beeindruckt uns sehr. Besonders erstaunt die Konzerthalle mit ihrem weitläufigen leicht terrassierten Vorplatz und das Objekt mit und im Wasserspiel, die Darstellung einer antiken Fregatte. Aber auch die vielen kleinen Brunnen und Wasserspiele fordern immer mal einen Stopp, und wir lassen uns gerne aufhalten.
Meinem Wim, Gärtner und Florist aus Leidenschaft, ging natürlich sein Herz besonders auf. Aber auch sein Mitgefühl angesichts der Mühen, die diese gärtnerischen Hochleistungen bedeuten. Und dann die Kosten. Wie reich muss eine Stadt sein, dass sie sich so etwas leisten kann? Beete farblich passend zur Bebauung bepflanzt, an Kreativität und Vielfalt nicht zu überbieten. Uhren, Tiere, Figuren, Formen - alles in üppigster Blütenpracht. Schaut selbst … Wim führt gerne mal rund.
Dem Geruch nach, oder besser der Nase nach, finden wir tatsächlich eine kleine Bäckerei, die leider kein Brot hat, sondern nur Kuchen und süßes Gebäck. Aber dafür haben wir ja auch Verwendung und sacken ein noch warmes Stück eines großen runden Hefekranzes mit Rosinen und vermutlich Aprikosen ein.
Der Heimweg führt durch die Altstadtgassen mit ihren 200 Jahre alten Häuschen und an wunderschönen Fassaden vorbei. Vieles ist instand gesetzt, an vielem wird gearbeitet. Die über Jahrhunderte hinweg sehr unbeständige leidvolle Situation im Land hat natürlich auch hier ihre Spuren hinterlassen. Aber man konnte den zweifelhaften Charme der ehemaligen Sowjetherrschaft bereits erfolgreich vertreiben. Ventspils als Hansestadt war schon immer reicher, und wurde durch Ölexporte richtig wohlhabend, was sich auch im Preisgefüge für die Bewohner der Stadt zeige, das zum Teil sogar über dem von Riga liege.
Der Abend bringt uns noch ein wenig Schiffsverkehr und das Umparkmanöver der „Capital“ der Länge nach vor unsere Nase und den Einlauf einer großen Fähre. Seeluft mit einer Brise Weite-Welt ist doch mal wieder toll.
12.08.2021 Donnerstag
Die Nacht war sehr sehr kurz. Wim zwar im Tiefschlaf, aber ich habe bis 4 Uhr morgens im „Salon“ gesessen und hatte zeitweise wirklich totale Angstzustände. Niemals ist mir das bisher passiert, dass im Womo irgendwie Angst aufgekommen wäre. Aber niemals standen wir auch gefühlsmäßig mitten auf dem Nürburgring in startendem Formel1-Rennen. Denn … wieder mal wahnsinnige Idioten lieferten sich auf dem großen, sehr freien Parkplatz und den anliegenden Straßen im Hafen noch idiotischere Rennen. Es ist unbeschreiblich, was die da vollführt haben. Scheinbar ist es Volkssport hier. Und scheinbar kosten auch Reifen nix. Denn Abrieb- und Bremsspuren sind auf dem Belag reichlichst vorhanden, was mir aber erst heute morgen auffällt. Die Motoren wurden bis fast 4 Uhr hochgezogen im Stand mit unglaublichem Gedröhne, und dann wurde abgefeuert und gerast wie hirnverbrannt. Ich hab quasi darauf gewartet, dass uns einer das Hinterteil wegfetzt. Aber der Carthago neben uns ragte weiter raus, der hatte nicht so weit vorgezogen. Ja, man malt sich zu solch einer Geräuschkulisse Schreckensszenarien aus und dann ist Schluss mit Schlaf. Gut, in Köln und überall gibt es natürlich auch diese Aktionen. Vielerorts hat die Polizei es aber sehr gut im Griff.
Hier zeigt sie ihre „Präsenz“ nur uns gegenüber, denn nach Abreise vom Nachtlager an diversen Werkstätten - oh Wunder - vorbei und anschließendem kurzen Stehen vor einem Supermarkt wird Wim, der am Steuer sitzt und auf mich warten will, sehr abweisend und unfreundlich weggeschickt, es sei Parkverbot. Da schau her, gerne doch mal nachts in Hafenlage die nötigen Anordnungen geben, wäre angebrachter.
Ach ja, sehr wenig erbaulich, und hinzu kommt eine absolute Unfreundlichkeit der Supermarkt-Angestellten, beinah notgedrungen wickelt man meine Einkäufe an Fleischtheke und Kasse ab. Schrecklich. Nirgendwo habe ich bisher Vergleichbares erlebt in dieser Art, außer vor 35 Jahren in Moskau.
Was wäre wenn? Was wäre, wenn die Menschen hier nicht diese üppige Farbenpracht der Blumen überall hätten? Sie sind ja trotz der freundlichen strahlenden Flower-Power und besonderen Ansichten ihres Umfelds kaum in der Lage, sich wenigstens ein soziales Lächeln abzuringen. Die Stadt ist eine Mogelpackung.
Es ist unser Eindruck bisher. Ja, ein oberflächlicher und pauschaler, das stimmt. Aber es bedrückt uns eben sehr, wenn so gar nichts zurück kommt, sei es auf ein „hallo“ im Vorbeifahren an Straßenarbeitern in Baustellen oder beim Vorlassen eines Busfahrers im Verkehr oder nach einem Dankeschön an die Kassiererin. Null Erwiderung, nicht mal Blickkontakt.
Ja, dieses Land und seine Menschen sind gebeutelt, getrieben und berechtigt skeptisch über Generationen, mal gelinde ausgedrückt, das ist uns keineswegs unbekannt, kann aber auch nicht für alles herhalten.
Kurz überlegen wir, nur noch Riga anzusteuern, lassen dann aber doch nicht den Zipfel Kolka aus und rumpeln auf der Strecke, die nur durch schön blühende Sommerheide und ihren wechselnden Straßenbelag Abwechslung in die heutige Fahrstrecke von 80 km bringt, auf einen Strandparkplatz direkt an der Ostsee in Mazirbe.
Über einen Schotterweg erreichen wir in 3 km eine passende Lücke auf dem kleinen PP unter einem Wachturm und vor ein paar verfallenen Militärbehausungen.
Egal, es soll ja nur etwas Meer genossen und eine Badepause eingelegt werden.
Und das gelingt am fast menschenleeren superschönen Strand bei bestem Wetter.
Gelegenheit auch für die Hunde, mal richtig „die Sau raus zu lassen“, nachdem die Veranstaltung „Strand“ in Ventspils ohne sie stattfinden musste aufgrund behördlicher Verbote.
Übernachten wollen wir auf dem Strand-PP nicht, 20 km weiter soll es einen einfachen CP geben. Also wieder auf die einzige Landstraße und irgendwo wieder links ab über Schotter durchs Unterholz. Elche sollen hier leben, Wölfe auch, scheinen aber nur in ihren Verstecken zu hausen, keiner lässt sich blicken, obwohl wir dicht genug mitten im Wald dahin schleichen. Vereinzelt liegen sehr versteckt Holzhäuschen und Hütten, auch schöne Steinhäuser sieht man, hier in unmittelbarer Nähe zur Ostsee lässt sich schön runterkommen.
Und ankommen lässt es sich vortrefflich, denn an einem wunderschönen Knusperhäuschen aus dunklem Holz mit weißen Sprossenfenstern führt uns unser Weg auf eine Lichtung hinter dem Haus auf eine große Wiese mit kleinen Holzhäuschen, Sitzgruppen und Feuerstellen, mittendrin ein Teich mit Seerosen und hohen Rohrkolben.
Die späte Nachmittagssonne fällt noch auf dieses Idyll, als mir der Hausherr in gebrochenem Deutsch erzählt, dass seine Eltern auch hier gelebt hätten. Auf meine Frage hin, wie es denn damals gewesen sei, als dies ein quasi hermetisch abgeriegelter und von den Sowjets militärisch streng kontrollierter Bereich gewesen sei, atmet er tief und erzählt mir eine Begebenheit, von der ich annehme, dass diese Erfahrung einen niemals endenden Hall in ihm hinterlassen hat.
Er war Schulkind, wohl in der 6. Klasse. Sein Vater habe ein Fernglas besessen, um die Schiffe auf See zu beobachten. Mit diesem Fernglas sei er dann mal losgezogen, habe aber nicht den Horizont ins Visier genommen, sondern einen Wachturm am Strand. Eine halbe Stunde später sei zuhause ein Militärauto vorgefahren. Zwei Militärs hätten die Eltern in die Mangel genommen, man habe sie als Spione verdächtigt, obwohl ihnen niemals etwas daran gelegen hätte. Dann wurde er, der kleine Junge, quasi links gedreht. Sie mussten anschließend alle mit in das Auto einsteigen und zu einer Basis mitkommen, wurden von hohen Offizieren erneut vernommen, es wurde sogar noch mit anderen konferiert und telefoniert, und sie durften schließlich wieder gehen, vorher mussten aber noch 10 Rubel bezahlt werden. Auf meine Frage, ob er Angst gehabt habe, nickt er mehrfach, und er bejaht, ja, sehr viel Angst habe er gehabt. Und ein Blick in seinen traurigen Gesichtsausdruck spricht Bände.
13.08.2021 Freitag
Augen auf, nach einer solchen Nacht sieht die Welt nochmal ganz anders aus. Kein nächtliches Getöse, keine Schreckensszenarien, nur Stille, Meeresrauschen, und dann dieses Wetter. Sofort ist klar, wir bleiben. Kaum ist der Entschluss gefasst, wird auch schon überlegt, wie wir den Tag „vollstopfen“ können. Letztlich, solche Tage kennt sicher jeder, wird viel geplant und nix gemacht. Und das ist gut so, so gut! Ein Tag lässt sich auch gut mit Fotografieren und Feuerspielchen verbringen, da muss nicht unbedingt Rad gefahren oder besichtigt werden.
Wir stehen nach wie vor alleine auf dem Areal hier, können uns vogelfrei fühlen, so frei, dass die Hunde auch mal leinenlos toben können.
Ich widme mich dem Farbenspiel des Teichs …
außerdem der Vogelbeobachtung …
und der Insektenjagd …
während Wim sich um das Einbrennen unseres neuen gusseisernen Topfs kümmert. Als er zuhause las, dass man hier im Baltikum vielfach Feuer machen darf und sogar an zahllosen Stellen Grills zur freien Nutzung für jedermann stehen, haben wir uns entschlossen, so einen Topf anzuschaffen. Und heute ist der exakt passende Tag, um dieses Gerät in Betrieb zu nehmen. Wim liebt Feuerchen machen …
Es sieht alles toll aus, scheint auch zu funktionieren, aber zu gut, einfach eine zu heiße Angelegenheit. Bei dem Feuer, was Wim da gestapelt hat, hätten wir vermutlich eine Elchkeule butterzart schmoren können, für 1 x quer durch den Kühlschrank mit Würstchen und Frikadelle war es mindestens eine Nummer zu feurig. Wegen der doch massiven Röstaromen muss es Punktabzug geben. Gut, hinterher einen Schnaps, und es passt wieder.
14.08.2021 Samstag
Gegen frühen Morgen grummelte ein Gewitter heran, kurz und schmerzlos. Im Juni und Juli sei es hier auch ungewöhnlich heiß und sehr trocken gewesen, erzählt uns der freundliche Hausherr später, es verschiebe sich alles. Er sei froh, so als Rentner seine Ruhe zu haben, vor allem fernab der Stadt. Als junger Mann sei das anders gewesen, da habe er Riga geliebt. Nun im 100 Jahre alten Holzhaus, das sein Opa noch gebaut habe, fühle er sich richtig wohl. Der Opa sei, wie auch sein Vater und er, Förster gewesen. Währenddessen fotografiert er mehrfach die Hunde und uns, „für meine Frau“, sagt er. Sie sei noch in der Stadt, käme aber bald. Er habe sein Auskommen, auch mit dem Camping hier. Aus Deutschland kämen einige, ein Paar auch schon 12 Jahre. Wir finden es auch wirklich sehr schön, einfach paradiesisch, sonst hätten wir nicht beschlossen, noch einen weiteren Tag zu bleiben. Er freut sich sehr darüber, man merkt, er ist stolz darauf, mit Recht.
Gestern Abend kam noch ein Volvo, von denen übrigens sehr viele hier fahren, mit litauischem Ehepaar und Kind an, bezog eines der winzigen Häuschen, die weder Strom noch Wasser noch Toilette haben. Plumsklos, sehr ordentlich, wie Wim gesehen hat, sind im Wald, Wasser holt man aus der Natur-Außen-Kaltwasser-Dusche, Strom von einer Säule. Man hat hier Vieles nicht, aber das wirklich Wesentliche im Überfluss.
Da der Strand recht fest ist, wollen wir heute mal eine Radtour in diese Richtung unternehmen in der Hoffnung, er trägt. Ohne Hundeanhänger! Das gab es bisher nie! Niemals waren wir auf einem Platz, von dem aus leinenlos losgetrabt werden konnte. Also, einfach sprachlos! Aber die Hunde staunen auch, so auffällig, sie gucken immer wieder uns an, dann zurück zum Womo, als ob sie fragen wollten: „Ey was‘n mit Euch los, habt Ihr nicht was vergessen, ist das jetzt Euer Ernst, echt jetzt, mit ohne Leinchen los ?!? Und dann flitzen sie um uns die gerade mal 500 m bis zum Strand über einen geschwungenen breiten Pfad mitten durch den Wald. Märchenhaft.
Und dann? Ja dann:
rechts keine Menschenseele, links keine Menschenseele, nicht mal ein Tanker am Horizont.
Und los geht‘s, Feuer frei. Boah, das macht so einen riesigen Spaß am Meer zu radeln.
Frischer Wind, gesunde Luft, keine Aerosole, Freiraum und Freiheit pur.
Da Chianga nicht so die Ausdauersportlerin ist - von wem sie das wohl hat? - sind wir nicht so sehr weit unterwegs, sitzen aber noch lange auf einer Bank in den Dünen, immer noch leicht entrückt.
Am Platz zurück haben sich weitere Gäste eingefunden. 6 junge Leute richten sich gerade in dem Zwergenhaus ein, d. h., sie räumen darin herum, beschäftigen sich aber eher damit, Schlaflager in ihren Autos herzurichten. Natürlich hat so ein Häuschen keine 6 Betten, wo auch. Und es ist, wie wir es auf unserer Reise nun schon oft gesehen haben, bei Jung und Alt total üblich, sich ein Bett im Auto zu machen. Für uns, auch mit Rückblick auf die Jahre als Jugendliche und junge Paare, absolut undenkbar, man hatte dann wenigstens ein Zelt, wenn es schon nicht für eine Pension reichte. Und ein älteres Ehepaar rauscht heran, richtig mit Schmackes, in einem fast antiken Kleinwagen in hochglänzend leuchtendem Himmelblau, auch aus Litauen. Wim guckt sich das Fahrzeug an, ein langer russischer Name in breiten verchromten Buchstaben hinten auf der Klappe, niemals gesehen vorher. Und was machen die Jugendlichen wie auch das ältere Paar sofort? Sie feuern die Feuerstellen! Direkt! Ein Muss scheinbar.
Woraufhin Wim auch mit dem Holzbeischleppen beginnt, „unsere“ Feuerstelle rüstet, den verkokelten Dutch ausbürstet, um in ihm das Garen von Pellkartoffeln zu versuchen. Mit genügend Wasser werden die nicht so schnell anbrennen. Außerdem lässt er den dicken Grillmaxe raushängen und stellt noch den Weber-Holzkohle-Reise-Grill dazu, nur Pellkartoffeln ist ja auch nix. Und so wabern gegen Ende des Tages etliche Rauchschwaden um die Knusperhäuschen, den russischen Oldie, unser Concördchen und die Wipfel der hohen Kiefern in den blauen Himmel, im Gegenlicht der immer noch stark scheinenden Sonne ein sehr heimeliges Bild.
Aber auch weniger Heimeliges tat sich heute auf:
ein Strandfund, der nach Wirbelknochen aussieht
eine recht lange dicke Schlange auf dem Weg zu den Nachbarn
und ein riesiges, mit Beute fliegendes Insekt.
Glücklicherweise werden diese Bilder in den Schatten gestellt vom wunderschönen Sonnenuntergang.
15.08.2021 Sonntag
Heute ist sie aber fällig: die Weiterreise. Nicht, dass man es hier nicht mehr aushalten würde, im Gegenteil. Es ist ein Ort, der - jedenfalls für uns - so vieles hat, was uns gefällt, was rundum zufrieden macht, und was wir so in der Art selten finden bzw. teilweise noch nie gefunden haben. Dazu gehört auch die so freundliche und aufmerksame Art des Hausherrn und seine große Hundeliebe. Und man winkt sich zum Abschied zu in der Hoffnung, das in einem nächsten Jahr wieder erfahren zu dürfen.
Der Schotterweg mit Kreuzungsbereichen und etlichen versteckten Ferienhäuschen entlässt uns bald auf die einzige Hauptverkehrsader, auf der wir erstmal die paar Kilometer bis zum Zipfel dieser Halbinsel fahren. Unterwegs saust doch in einem Kreisverkehr der russische Himmelblaue mit uns hindurch. So ein Zufall.
Auf dem PP am Kap Kolka angekommen, knubbeln sich Besucher und Autos. Souvenirhütten und Infostände werden belagert. Blitzartig Faxen dicke. Kurz und knapp werden das Kap fotografiert, 3 € Parkgebühr bezahlt, und nix wie weg.
Das Wetter ist etwas lausig, sieht gelegentlich duster aus, Regen fällt, im Wechsel mit Sonnenschein. In Kolka besorgt Wim im Citro, so heißen hier die kleinen Supermärkte, ein paar Kleinigkeiten und an der Räucherfischbude ebenfalls. Weiter geht‘s vorbei an etlichen Wohnblock-Siedlungen, in deren Schluchten Berge von Baumstämmen liegen. Hier wird sicher noch mit Holz geheizt, und man rechnet wohl mit starkem Winter. Da muss aber noch gesägt und gespalten werden. Und da sind sie wieder! Auf einem einige Kilometer weiter angrenzenden Wanderparkplatz steht das Paar mit dem Himmelblauen schon wieder. Und jetzt wird gejubelt und gewunken was das Zeug hält. Zu lustig!
Auf der Route Richtung Riga, die wir befahren, zweigen wir Höhe Roja ins Landesinnere ab. Eigentlich sind es nur 65 km bis zu unserem Tagesziel, aber es könnte einige Zeit brauchen, da der Straßenzustand sauschlecht ist, ein einziges Flickwerk. Wim stöhnt. Concördchen ächzt. Ich schweige. Und hoffe, das von mir bestimmte Ziel entpuppt sich nicht als Flopp, dann wäre Wim sauer, und das will keiner. Immer noch verdunkelt sich der Himmel, es blästert, aber gegen späteren Nachmittag wird‘s wohl erfahrungsgemäß wieder heller werden, hoffentlich!
Und wir erreichen das Örtchen Sabile. Und man höre und staune: ein Weinörtchen! Ja ja, hier gibt es - in ganz begrenztem Maße - Südhänge, an denen Wein angebaut wird. Und da die Reben wahrhaftig Wurzeln schlagen und Früchte tragen, gibt es wohl ein paar Winzer, die sich um das Kreieren guter Tropfen mühen.
Bei einem solchen jungen Mann kommen wir unter. Auf einem riesigen Wiesenareal mit Golfplatz-Charakter, Blick auf Seen, Seerosen, Flussauen, Fluss, Sitzgruppen, Sonnenschirme, Grillhütte und sein Haus mit Nebengebäuden können wir uns niederlassen.
In seinem „Weinkeller“ probieren wir später verschiedene Weine. Er hält uns begeistert und fachmännisch Vorträge über Wein und Reben in Lettland, und das in bestem Deutsch, das er in der Schule gelernt habe. Er kredenzt uns die in Lettland mit Vorliebe konsumierten süßen Weine, u. a. Quitten- und Rhabarberwein. Alle sind ausnehmend fruchtig und sehr intensiv. Es seien „Sommerweine“, die die Letten liebten. Zwei Weißweine sind auch dabei, ebenfalls ein Roter. Lecker sind sie alle. Ein paar Präsente für Zuhause werden eingesackt.
Den restlichen Tag verbringen wir bei wunderschönem Himmel mit Sonne, ein paar Runden mit dem Rad und einem in Kolka gekauften Küchlein aus festem dünnen dunklen Teig mit einer Masse aus vermutlich Möhren mit Gries, Zucker und Schmand. Ungewöhnlich, aber nicht unlecker. Und mal sehn, wie uns Riga, das wir morgen ansteuern wollen, schmeckt.