29.07.2021 Donnerstag
Die gestrige Frage, ob wir heute wohl weiterziehen, wird nach heftigem Gewitter in der Nacht mit „ja“ beantwortet, obwohl es schon wieder hochsommerlich warm ist und Himmel und Natur verlockend frisch aussehen. Eigentlich Bleibewetter. Aber es locken noch so viele ferne Ziele, und der Drang ist einfach größer. Also wieder an den Stockrosen vorbei, nachdem wir ver- und entsorgt haben und auf zur nächsten Tanke. Vor Litauen ist uns wohler, wenn alles wieder im grünen Bereich ist.
Das Städtchen Suwalken hat in den Außenbereichen sehr viele Geschäfte und große Gewerbeflächen. Hier gibt es alles. Auffällig viele Läden mit Bedachungsmaterial sieht man, dazu passt es, dass sehr viele tadellos perfekt gedeckte neue Dächer auf den Häusern auffallen. Man legt darauf wohl sehr viel Wert. Auch wenn um die Städte herum natürlich hohe Wohnblöcke stehen, wirkt eigentlich alles in gutem Zustand. So grenznah hätte man das auch anders erwarten können.
Wir reihen uns dann mal wieder ein auf zweispuriger Straße zwischen die dahin brausenden LKW in nie enden wollender Karawane. Karawane .. ja, wann Marokko wohl wieder möglich sein wird. Wir denken sehr oft daran und vermissen sehr die Andersartigkeit. Aber mal sehn, womit die für uns neuen drei Länder überraschen werden. „Brat mir einen Storch“, das wäre schon mal eine Überraschung, denn unzählige Störche säumen unseren Weg, und ich frage mich, warum sie ihre Nester auf Masten direkt über der LKW-Trasse bauen, statt sie beschaulicher in der weiten Natur zu errichten. Frösche werden wohl eher selten von den LKW abspringen, dass diese Plätze sich besonders lohnen könnten.
Die kurze Route bis zur Grenze nach Litauen führt durch leicht hügeliges Land. Polen verabschiedet uns mit schönen Aussichten und entlässt uns sehr unspektakulär ins Nachbarland, wenn man davon absieht, dass uns auf einem Schornstein ein Wolf nachheult. Auf einer Baustellenspur rumpeln wir am Schild „Lietuvos Respublika“ vorbei und sind in Litauen. Die schäbigen Zollstationen am Grenzübergang sind menschenleer. Keiner möchte irgendetwas sehen, keinen Pass, geschweige denn einen Corona-Test oder Nachweis. Auf der Gegenspur ist das anders, da werden nach Polen einreisende Fahrzeuge schon kontrolliert von Beamten.
Landschaft und Ansichten ändern sich kaum, sieht man davon ab, dass die tollen polnischen Dächer auf den Häusern fehlen und eine knallrote breite Linie in Fahrbahnmitte wohl sehr nachdrücklich am Überholen hindern soll, was auch beachtet wird. Gleichmäßig schnurrt der Verkehr dahin. Das letzte Stück bis Kaunas, unser Tagesziel, ist ausgebaut als Autobahn. Die 150 km heute sind schnell abgefahren.
Es ist ein leicht unwirkliches Gefühl, über die breite Memel zu fahren, die ich aus Erzählungen meiner Oma kenne. Nicht, dass sie jemals hier gelebt hätte, aber die Erinnerungen ihrer Brüder an Soldatenzeit und Krieg waren damit verbunden und erheblich anders als das, was wir nun erfahren.
Kaunas zur Rechten biegen wir links ab auf einen kleinen CP an einem See, von dem aus wir morgen Kaunas per Rad erkunden wollen. Natürlich ist ein Stadtplatz alles andere als beschaulich, rundum laufen Straßen, Lärm unüberhörbar, aber der kleine lichte Kiefernwald entschädigt etwas, und wir haben genügend Auswahl bei der Platzsuche. Zwischen einem finnischen und einem Kölner Mitcamper parken wir ein. Gerade die Stühle draußen, kommt ein junger Mann mit Rad in unsere Nähe und packt sein Zelt aus. Ich weiß sofort, dass ich ihn kenne. Er kam von irgendwo her, als wir auf dem Bauernhof am See standen, und sprang kurz neben unserem Womo ins Wasser. Gesprochen haben wir nicht miteinander, war nur eine Beobachtung aus dem Augenwinkel. Jetzt frage ich ihn aber, und siehe da: er ist es! 500 km liegen dazwischen und 4 Tage, stramme Leistung. Er sei aus Tschechien, sei bis Warschau mit dem Zug gefahren, wolle nun die komplette Runde drehen über Finnland, Schweden, Dänemark usw.. Alle Achtung. Und da trifft man sich wieder. Die Welt ist klein. Mittlerweile rollen noch weitere Womos ein. Man merkt, Kaunas zählt zu den Must-see-Orten. Auch die Kölner Nachbarn kommen nach Sightseeing zu ihrem Womo zurück. Eine Heimat verbindet doch immer, und das Schwätzchen ist lustig und schön. Sie reisen morgen per Fähre bis Kiel und zurück nach Hause mit Erinnerungen an einen tollen Urlaub.
30.07.2021 Freitag
Trotz Stadtlage verlief die Nacht ruhig und friedlich. Der Wind hat aufgefrischt, und es sieht nach Gewitter aus. Da wir aber morgens immer etwas brauchen, ehe wir Betriebstemperatur erreicht haben, hatte das Wetter Zeit, sich doch zum Guten zu wenden, und die Sonne strahlt. Also ideales Wetter bei 24 Grad zum Radeln und Sightseeing Kaunas, Litauens zweitgrößter Stadt. Wir freuen uns darauf. Zu oft haben schöne Bilder die Nase lang gemacht. Und Wim sattelt.
Ein langes Stück radeln wir am Memel-Ufer entlang. Breit ist der Fluss, urwüchsig die Wiesen drum herum, hutzelig die anliegenden Häuser. Nur ein paar Menschen begegnen uns, grüßen freundlich.
Vom Fluss abgewandt geht es weiter an Hauptverkehrsstraßen entlang auf insgesamt marodem Radweg, wobei überall geschrieben wird, wie herrlich man in und um Kaunas radeln kann. Na ja, viel Verkehr macht uns nichts aus, da wo wir fahren, fährt kein anderer, sag ich immer, aber komplett fehlende Stücke ohne Asphalt, Bordsteine, die es auch in „tiefergelegt“ gäbe, eine Breite, die auch für 2 reichen würde, Schlaglöcher, holprigstes Pflaster aus Wackersteinen … von gut zu Radeln meilenweit entfernt. Da war Marokko um Klassen besser. Aber dank unserer dicken Bereifung ist Absteigen sehr selten nötig und die Bikes dampfen über Vieles und schlucken auch das Knubbeligste.
Nachdem wir die Brücke über die Memel - natürlich Baustelle - zu Fuß und schiebend überquert haben, gelangen wir an der Burg von Kaunas vorbei auf die Halbinsel am Zusammenfluss von Neris und Memel. Hier ist auch ein Anleger für kleine Ausflugsboote, aber alles komplett untouristisch und ursprünglich schön.
Die Burganlage, um die herum Rasenroboter still ihren Job machen, ist unter diesem Himmel eine Augenweide. Die Farben strahlen mit dem Himmelsblau um die Wette. Es färbt auf die Menschen ab. Wir blicken nur in freundliche Gesichter, Kinder sind quietschvergnügt auf den vielen Spielplätzen zugange, Jugendliche bevölkern die Sandplätze, es fällt richtig auf, dass ohnehin für alle reichlich vorhanden ist, auch überall Bänke in großer Zahl. Der kurze Blick in die Kirche des Bernhardinerklosters muss sein, toll auch, dass die folgenden Kirchen offen sind.
Um ein paar Ecken holpern wir auf einen großen Platz zwischen Rathaus und Jesuitenkirche und den Sitzgruppen der Lokale.
Wie schön, eine Hochzeitsgesellschaft richtet gerade alles auf einem kleinen runden Tisch zum Sektempfang. Fein gemachte Gäste stehen schon bereit, dicke Autos ebenfalls. Ohnehin fahren meist nur schwere Karossen herum, sozusagen keine Schrottlauben, nur gehobene Mittelklasse. Und beim Weiterschauen sehen wir, dass heute wohl Hochzeits-Freitag sein muss. 10 Paare trauen sich, geschätzt, eher mehr. Vorne geht man hinein in den „Weißen Schwan“, wie das Rathaus auch genannt wird, und hinten kommt das Paar nach ganz kurzem Glockengebimmel wieder raus. Ob es ein- und dieselben Partner sind, wie beim Hineingehen, haben wir nicht verfolgt. Möglich wäre ein Tausch noch so kurz vor knapp, denn im 15-Minuten-Takt wird hineingeschritten, und man könnte sich schnell vergriffen haben.
Eine Familie hat sich nicht lumpen lassen und lässt eine irre Stretch-Limousine vorfahren, ein nicht enden wollendes dröhnendes weißes hochglänzendes Flaggschiff vom Feinsten. Dagegen nimmt sich die „normale“ Stretch-Limousine armselig aus, was mir für die Familie leid tut. Tja, es gibt immer einen, der länger raushängen lassen kann, weil er‘s kann. Hoffen wir, die Gesellschaft feiert trotzdem unbeschwert - trotz des Dämpfers.
Jedenfalls können wir so mittendrin die Gästescharen beobachten, die Damen sehr elegant und schick, zupfen an sich und der Braut herum, die Herren meist total lässig gekleidet, irgendwie etwas unpassend. Schön, mal wieder Menschen anderer Länder zu sehen.
Beim Betreten der Kathedrale der Heiligen Peter und Paul verschlägt es einem den Atem. Eine nicht erwartete Pracht offenbart sich einem hier.
Das Durchstreifen der Altstadt hingegen ist leider etwas uneffektiv, da wir andauernd von Baustellen ausgebremst werden. Die unverkennbar noch vorhandenen Spuren des Sozialismus und der Kriegszeiten sind zwar in Bearbeitung, aber es wird dauern und bereitet unüberwindbare Hindernisse mit großen Umwegen.
So belassen wir es dabei und blasen zum Rückzug. Unterwegs fällt uns ein echt leckerer Burger in die Finger, an dem wir uns vor filmreifer Kulisse einsauen, denn vernünftig essen kann man solche Doppeldecker wohl nicht. Falls ja, bitten wir um Zusendung einer tauglichen Gebrauchsanleitung. Die werden wir dann morgen lesen, wenn wir uns in beschaulichere Gegenden am Memel-Ufer weiter gen Norden gehangelt haben.
31.07.2021 Samstag
Durch die Vorstadt Kaunas mit stark osteuropäischen Noten oder Hinterlassenschaften, der aber auch sehr moderne Bauten folgen, machen wir uns auf den Weg, dem Lauf der Memel zu folgen.
Bald schon wird es sehr ländlich, am Straßenrand wird angeboten, was Gärten hergeben, verstreut liegen bunte Holzhäuschen auf landwirtschaftlichen Flächen und in Wäldern aus Föhren und Birken. Wir lassen es langsam rollen auf der recht guten Route 141, die immer wieder wunderschöne Blicke auf den breiten Fluss freigibt. Bodenwellen und Flickwerk im Asphalt halten sich in Grenzen.
Landestypische Neubauten stehen zwischen altem bewohnten Bestand. Vorliebe für Farbe wird deutlich. Es sind so die Ansichten, die wir uns erhofft haben.
Die Memel fließt zügig im breiten Bett Richtung Meer. Einfach phantastisch, wie die Ufer der Natur überlassen bleiben. Es bilden sich immer mal wieder Inseln, sandige lange Zungen im Fluss und unterschiedlicher Bewuchs. Rechts und links steigt die Landschaft stärker an, der Fluss hat sich hier schon sein Bett gegraben. Und Häuser stehen nicht im Uferbereich links der Straße, man wählte wohl schon immer die Sicherheit der erhöhten Position nicht grundlos. Hoch oben gucken hin und wieder Kirchtürme über die Baumwipfel oder trutzige Türme alter Schlösser oder Burgen.
Einiges gäbe es zu besichtigen, aber wir wollen erstmal ankommen in Jurbarkas auf dem CP am Memel-Ufer. Das wird erschwert, warum auch nicht, durch Baustellen. Wim schwärmt wieder mal zu Fuß aus, um die Lage zu peilen. Währenddessen spricht mich am Straßenrand eine Frau in perfektem Deutsch an. Sie freut sich und erzählt auf meine Frage, wo sie denn so gut Deutsch gelernt habe, sie habe das in der Schule gelernt und auch eine kurze Zeit in Deutschland gearbeitet. Nun sei sie hier in Urlaub, lebe in Vilnius, und ist sichtlich begeistert, dass wir die Route an der Memel entlang gewählt haben, das sei die schönste Strecke in ganz Litauen. Kaum ist sie weg, erscheint ein forscher Mann und plaudert auch direkt los in gutem Deutsch. Er könne uns versichern, dass wir über die marode schmale aufgerissene Straße den CP erreichen könnten, sei kein Problem. Gestern erst habe er einen uralten Volksarmee-LKW aus DDR-Zeiten dahin gelotst, er hätte sich echt total erschrocken und gedacht, mit Augenzwinkern, die Nato käme, weil Belarus wieder irgendeinen Zirkus veranstalte.
Und Wim kommt zurück, alles im Griff, da geht was, also wenden und durchquetschen. Mit Blick in fremde Gärten gelangen wir ans Memel-Ufer und zum CP, einer großen schrägen Wiese, die auf noch einigermaßen geraden Terrassen vollgeparkt mit PKW ist. Ohweia, bin total enttäuscht, der Platz war gut beschrieben. Mist. Na ja, wir halten Ausschau nach etwas plattem Land und klemmen uns ans Ende einer Parkschlange, Schilfbüschel vor uns, freier Fluss-Blick sicher. Auf einer erhöhten Terrasse an einem noblen Haus stehen 5 französische Womos im Kuschelmodus. Nein, so wollen wir heute nicht enden, dann lieber hier.
Störche ziehen über uns hinweg, fliegen ein gut einsehbares Nest in der Nähe an, Paddeler paddeln sich einen ab, Vogelscharen bevölkern Sandbänke in den Fluten, gut gelaunte Menschen ringsum, die wohl zu den vielen geparkten Autos gehören. Sie haben, so stellt sich raus, heute an irgendeinem Wandertag teilgenommen, 32 km hinter sich, bekommen abends sogar „Diploma“ und Pokale, und es wird zur Musik einer Kapelle gefeiert.
M wie Memel mit Musik mittendrin - so fluppt‘s auch mit einem schönen Abend.
01.08.2021 Sonntag
Gestern spät abends krachte noch ein Gewitter hernieder. Die Wandergesellschaft ließ sich aber nicht beeindrucken, feierte in der schleunigst aufgesuchten Hütte weiter. Uns störte es nicht, die Musik gefiel uns auch, nur die 5 Störche im Nest nebenan, die machten uns Sorgen, die bekamen ordentlich Schauer um die Schnäbel. Aber der Morgen zeigt, sie sind noch da und betteln auch schon wieder schnäbelklappernd ihre Eltern an. Bald werden sie selber Futter suchen und weite Strecken fliegen müssen, wenn‘s in paar Wochen gen Süden geht. Störche haben für uns doch immer eine Faszination, vielleicht weil sie sich in unserer Heimat eigentlich nie blicken lassen.
Die parkenden PKW sind abgefahren, der Platz fast leer. Heute wird geradelt. Wir wollen ein paar Runden durch die Kleinstadt Jurbarkas drehen. Bei schönem Wind steigen die Temperaturen auf 28 Grad, die man kaum wahrnimmt. Über den Memel-Radweg erreichen wir die Kirche, aus der die Messe nach draußen übertragen wird.
Die Straßen sind meist breit und wenig befahren. Kaum Menschen sind unterwegs, nur am Blumenladen und am großen Supermarkt herrscht Betrieb. Die vielen kleinen Läden haben geöffnet. Sehr oft sehen wir Friseursalons und Nagelstudios. Hier wird große Nachfrage herrschen.
Unterschiedliche Häuschen und Häuser mischen sich zwischen höhere Wohnhäuser. Gepflegt wirkt alles, auch die Parks. Blumen blühen überall, besonders natürlich in den kleinen Gärten der alten Holzhäuser, die wie verwunschen umrahmt von hohen blühenden Stauden dastehen.
Auf dem Rückweg nehmen wir die enge Baustellen-Kreuzung, die wir gestern erst nach Sichtung mit dem Womo befahren haben und gönnen den Hunden Badefreuden am Fluss. Nur vereinzelt schippern Boote vorbei. Auch auf dem Wasser herrscht kein Betrieb.
Der Tag klingt ruhig aus, wie er begonnen hat, eben ein Sonntag. Und zu unserer Begeisterung schwingt sich die Storchenfamilie aus ihrem Nest hinab zu uns in die Niederungen und verschafft uns so noch ein ganz besonderes Vergnügen.
Dann wird es dunkel. Und die Nacht hüllt den fast 1000 km langen Strom in blaues Licht.
02.08.2021 Montag
Regen. In der Nacht fing es an und hält sich dran. Die dunkle Wolkendecke verspricht auch keine Besserung. Aber da heute ohnehin Reisetag ist, macht es nicht so viel aus. Eine Abkühlung nach den hochsommerlichen Temperaturen tut gut. Wir verlassen unsere Schlafstelle am Strom, dem Nemunas, wie die Memel in litauischer Sprache heißt, und begeben uns auf die heutige 120 km Etappe Richtung Mündungsdelta und Küste auf die 141, vorbei am wunderschön gelegenen Friedhof der Stadt. Die ersten Radwanderer, von denen viele in der Gegend unterwegs sind, begegnen uns. Nieselwetter und Grau, das ist schon eine Aufgabe, da muss man Radfahren lieben. Wir sind dagegen Weicheier und nur Schönwetterradler.
Ein entgegen kommender Transporter blinkt auf, ja, Scheinwerfer an, hatten wir vergessen, auch mal wieder das Verriegeln von zwei Schubladen, die bald aufknallen. Immer dasselbe. Die Hirnleistung lässt zu wünschen übrig. Aber das Durchfahren kleiner Ortschaften und einzelner Gehöfte lässt das alles schnell vergessen. Auch der Himmel klart auf. Es scheint Besserung in Sicht. Es regnet nicht mehr.
Ein ganzes Stück weit führt die Straße direkt an der Memel entlang, durch die sich nach ca. 30 km hier am Unterlauf die Grenze zur russischen Oblast Kaliningrad mitten durch den Strom bis zur Ostsee zieht. Die Bebauung zeigt ein sehr gemischtes Bild: litauische Holzhäuser, gemauerte Häuser, Fachwerkbauten, seelenlose Plattenbauten - Zeugen einer durch schreckliche Zustände ausgelösten Veränderung der Bevölkerung.
Irgendwo vor Silute fordert Rüdiger uns auf, die 141 nach links auf die 4214 zu verlassen. Jawoll, vierstellig, hatten wir lange nicht mehr. Und so hangeln wir uns kilometerweit mit Gemischtwarenladen im Magen über die zusammen gepuzzelte Asphaltflicken-Allee, an deren Ende die 206 eine gewisse Qualität zusichern könnte.
Tut sie auch, aber nicht lange. Noch in der Hoffnung, die Brücke nehmen zu können - die auf die einzige Insel Litauens führt, zu der wir aber jetzt nicht wollen -, müssen wir knapp davor rechts ab, und noch bevor das von Wim artikulierte „da fahr ich auf keinen Fall rein“ seinen Gasfuß erreicht, schaukelt das Concördchen auch schon von einer Schlammwanne in die nächste und nach rechts rum auf einen festen Schotterweg. Mit dem Navi-Befehl „der Straße folgen“ im Nacken - was auch sonst, Rüdiger, Du Klugscheißer -, manövriert Wim uns als Herr der Lage unter mutmachenden Eingaben meinerseits die letzten Kilometer durch den Uferdschungel des Atmata, eines Arms der Memel im Mündungsdelta.
Und tatsächlich biegen wir, nachdem wir einige schikanöse Abzweigungen passiert haben, aber glücklicherweise nicht nehmen mussten, in eine enge, aber doch vertrauenserweckende Einfahrt zu einem herrlichen Anwesen mit verschiedenen Holzhäusern, großen Wiesen und direkt am Fluss. Ein junger Mann eilt herbei. Zusammen mit ihm sichtet Wim erstmal wie gewöhnlich zu Fuß das Gelände. Er - und ich natürlich auch - hat kein Interesse, sich nach Regengüssen in litauischen Uferwiesen festzufressen.
Es gibt einen größeren Parkbereich hinter dem Wohnhaus, aber wir dürfen vor den Ferienhäuschen am Ufer stehen. Sie sind scheinbar nicht bewohnt, und wir haben Glück. Am Grundstücksende stehen wir nun, das Concördchen passte so gerade um die Ecken, unverstellbarer Blick, herrliche Aussicht, große Wiese, urige Nebenbebauung, Grillhüttchen, Sitzecken, Räucherofen, Schaukel. Ja, so soll das sein.
Ohnehin höchste Zeit, das auf Reisen übliche Häppchenessen am Nachmittag wieder einzuführen, wird die Sitzgruppe auf einem Betonpodest platziert, und es folgt Genuss ohne Reue. Wein im Sonnenschein, Salami und Gebäck aus Litauen, ein herumeiernder Reiher - läuft, alles im Fluss - und am Fluss, der Teil des Handelsweges der Bernsteinstraße vom Mittelmeer zur Ostsee war, allerdings in antiker Zeit, denn die paar Boote, die jetzt vorbei ziehen, haben gewiss andere Order.
03.08.2021 Dienstag
Es gibt Tage, an denen passiert nichts Aufregendes, und dennoch haben sie das Zeug dazu, es mit in die Reihe der Best-off‘s zu schaffen. Und so einer ist heute. Vermutlich beflügelt uns auch das wunderbare Wetter, nachdem es abends kräftig geregnet hat. Am blauen Himmel freut man sich am nächsten Morgen umso mehr. Das sehen wohl auch etliche Schiffchen so, die mehr oder weniger flott mit mehr oder weniger Gedröhne an uns vorbei durch die Fluten schieben. Der Knaller ist allerdings ein kleiner Kahn in strahlendem Badeentengelb. Bunte Farben ziehen sich wohl durch das ganze Leben und Schaffen eines Litauers.
Während Wim Räder und Hänger parat macht und die Hunde ein paar Kämpfchen austragen, googele ich, welche Richtung wir nehmen könnten. Die Wahl fällt auf die benachbarte Insel Rusné, die im Mündungsdelta liegt, am Haff endet und umflossen wird von drei Mündungsarmen der Memel, dadurch nicht mehr mit dem Festland verbunden ist. Vollkommen ohne Erwartung radeln wir los. Die Hunde können längere Strecken leinenlos nebenher flitzen, hier ist so etwas gut möglich.
Über die Brücke über die Atmata, wo wir rechts weiter unten am Ufer lagern und man nach links schon auf das russische Gebiet der Oblast Kaliningrad gucken kann, erreichen wir nach ca. 5 km den Hauptort der Insel, ebenfalls Rusné, biegen aber nach rechts ab und wollen dem Ort erst auf der Rückfahrt einen Besuch abstatten. Schöne Häuschen liegen auch hier überall im platten Land mit Stoppelfeldern, Weiden mit schwarz-weißen Kühen und hier und da ein Wäldchen.
Schwalben zischen um uns herum, Störche schauen von oben herab aus ihren Nestern. Menschen ackern in ihren Gärten, Holz wird gespalten, Babys spazieren gefahren, der Friedhof besucht, Hofhunde sichern Hab und Gut.
Immer mal wieder erheben sich Erdwälle und ziehen über weite Strecken durchs Land. Mit großer Regelmäßigkeit sind die Menschen hier im Frühjahr Überflutungen ausgesetzt, ist häufig „Land unter“. Zwar wird Wasser bei Schneeschmelze ins nahe Haff gepumpt, aber da die Insel nur 1 m über Flussspiegel liegt, sind Hochwasser und Überschwemmungen leider keine Seltenheit. Da mussten früher - und vermutlich auch heute - die Dachböden zur Rettung herhalten: bei den Bauern als Stallungen für das Vieh und in der Kirche als Lager für die Särge. Gedanken und Tatsachen, denen die Aktualität eine ungeahnte grausame Vorstellung verschafft.
Irgendwo gibt ein Schild mit Kaffeetasse die Richtung vor. Wir folgen. Und landen in einem wunderschönen noblen Landhaus und in entsprechenden Lounge-Möbeln. Das kommt jetzt gerade richtig. Hunger ist da, eine Pause perfekt. Man muss ja schließlich Eindrücke verarbeiten. Aber zunächst einmal die Speisekarte, die mit ihren Buchstabenreihen keinerlei Rückschlüsse zulässt. Die englische Karte hilft weiter. Hausgemachte Kartoffel-Pancakes, gefüllt mit einer Rindfleischfarce, in Pilz-Rahm-Sößchen serviert man uns auf schönem Geschirr und mit schwerem Besteck im Kästchen. Dazu ein Helles und ein Dunkles. Eine absolute Köstlichkeit.
Wir zahlen 22 € und beobachten beim Gehen, wie unentschlossen zwei Störche am schweren Eingangstor darüber nachzudenken scheinen, ob sie nun einkehren sollen oder nicht. Beim Näherkommen berichten wir ihnen, dass es sich lohnt, auch wenn keine Froschschenkel auf der Karte stehen.
Der Rückweg zum Hauptörtchen sollte eigentlich über eine Brücke gehn, die ist aber 10 cm zu schmal, die Hänger passen nicht. Aber nicht weit entfernt gibt es eine weitere Brücke, so dass wir nicht umkehren müssen. Und auf der Tour dorthin könnte man meinen, man sei in Holland in Giethoorn unterwegs, Farben stimmen, Bebauung ähnlich, Blumenschmuck und Atmosphäre passen, und das Radeln auf einem Deich. Nur spürt man hier die Weite, einfach das Übermaß an Ursprünglichkeit und Natur um einen herum, da kann Holland nicht mithalten.
Wir nähern uns im Ort dem Zipfel am Fluss, wo die Grenze zu Russland mitten hindurch führt. Ein seltsames Gefühl. Im dichten Ufergebüsch erkennt man einzelne kleinere Hütten, ein hoher Turm aus Eisen mit Plattform und Unterstand ragt auf, gegenüber auf litauischem Gebiet ein hoher Mast mit Kameras. Alles könnte einfacher sein, vogel-freier, wenn Mensch es zuließe.
Beim Durchfahren der Ortschaft sehe ich ein Schild mit einer Brezel, oha, eine Bäckerei. Allerdings wird die Brezel unterschrieben mit „Drogerija“. Aber wo eine Brezel hängt, muss doch auch eine drin sein. Beim Öffnen der Ladentür zeigt sich: es gibt keine. Ich stehe in einer Art „guter Stube“. Und statt Brezel gibt es in zwei kleinen Theken verschiedene Kuchen und Plätzchen. Gut, Brezel muss auch nicht sein, zwei Stücke vom mit Beeren und Creme hoch geschichteten Blechkuchen mit Baiser tun es auch. Die junge Frau wie aus Milch und Honig schneidet zwei Stücke heraus, verpackt sie gut und sicher, erledigt ihre Buchführung und strahlt zum Abschied.
Flott verläuft der Heimweg. Sonnenplatz am Fluss mit Kuchen lockt.
Mein Gott, welch ein genussreicher Tag.
04.08.2021 Mittwoch
Früh morgens schwimmt eine Entenfamilie interessiert an unserem Fenster vorbei, auch Katzen aus der Nachbarschaft vertreten sich die Füße um unser Womo herum. Glücklicherweise sind Plüsch und Plumm noch inhäusig. Katzen wären zum Frühsport ideale Sportskameraden. Wir legen jedenfalls heute ab, fällt schwer, vom herrlichen Fleckchen Abschied zu nehmen, aber die Ferne lockt, wir sprachen darüber. Erwartet werden wir vom Sohn und Vater der Besitzerfamilie. So freundlich fragt man, wie es uns gefallen habe, würde uns gerne wieder sehen. Das wird sich sicher in einem anderen Jahr ergeben, denn es war herausragend schön.
An der Kleinstadt Silute vorbei machen wir uns auf den Weg nach Minija, ein ganz besonderes Örtchen beiderseits des gleichnamigen Flusses mitten im Memeldelta. Es wird scherzhaft „das Venedig Litauens“ genannt, da es nur eine Hauptstraße gibt, und das ist der Fluss, an dessen Ufer eine Handvoll Häuser liegen. In früheren Zeiten war er die Verkehrsader schlechthin, über die per Boot z. B. die Kranken transportiert wurden und die Kinder zur Schule, die es seit 1736 gab, gelangten. Aber zunächst geht es schön asphaltiert und auch schön begrünt dahin auf unserer 30 km langen Tagesstrecke.
Dann Abbiegen nach links, breite Schotterstrecke. Was schreib ich nun zuerst: das Wunderbare oder das Nervige? Da ich alles wunderbar finde, das kürzere Nervende zuerst. Wim tut sich sehr schwer mit den 5 km Schotterpiste bis Minija, von dem er nichts wusste, aber gesichert davon ausgeht, dass ich ihn wieder in irgendeine Einöde lotse. Kleinere Zwistigkeiten werden ausdiskutiert, oder besser: andiskutiert, das Thema „wir haben ja Zeit“ vertiefend bearbeitet. Dann fahren wir eben nur 10 km/h, ist doch wurscht, Waschbrett ist eben Waschbrett, wir haben ja keine Termine und auch keine Bratkartoffeln auf dem Feuer. Natürlich werden solche 5 km lang, holprig lang, sehr sehr lang, und Gedanken an Luftfederung und Material überhaupt auch tonnenschwer. Aber letztlich schaffen wir es durch herrliche Natur mit Heide, Moor, Wiesen, blühenden und verblühten Blümchen, Altarmen der Flüsse und Lagunen, an Kuhherden vorbei und an tausenden von Vögeln, die sich schon zusammen zu scharen scheinen für ihre Flüge in den warmen Süden.
Unseren Plan, nach dem Besuch von Minija heute auf einen Campingplatz Nähe Klaipeda weiterzufahren, um morgen zur Kurischen Nehrung überzusetzen, lasse ich mal angesichts der sehr langen (laaaaangsamen) Anreise fallen vor dem Hintergrund, dass wir, angekommen im Hafen Minija mit witzigem Hinweisschild, dass man Elche in Ruhe lassen und Abstand halten soll, vom Hafenmeister das „ok“ für eine Übernachtung bekommen, 7 € zahlen und neben der trockengelegten Jana aus Cuxhaven vor Anker gehen können. Die hätten wir schon mal am Haken.
Trotz Bewölkung ist es immer noch sommerlich warm und die hübsche Bepflanzung mit Sommerblumen lockt uns um die Ecken und an den Fluss, komplett brückenlos. Schiffchen und Boote dümpeln, kleine Ausflugsboote fahren wenige Menschen durchs Revier. Das einzige Restaurant liegt blöderweise am anderen Ufer. So aktiviert Wim die Bordküche, Vorräte gibt‘s genügend.
Am Hafengelände angrenzend sieht Wim auf erhöhtem Erdwall ein paar verwitterte Grabsteine zwischen hohen Bäumen und Büschen und einfallenden Sonnenstrahlen der späten Nachmittagssonne. Es ist der Friedhof der Gemeinde. Auf dem hölzernen Eingang steht etwas in fremder Schrift auf der Vorderseite, auf der Rückseite auf Deutsch: „aber ich weiß daß mein Erlöser lebt“. Und dann steigt man auf schmalem Pfädchen den Hügel hinauf. Nur noch ganz wenige Grabstätten liegen verstreut auf dem kleinen Plateau. Die steinernen Einfassungen sind bemoost, kleine Gewächse wuchern über die Gräber, die Inschriften auf größeren Steinblöcken nicht mehr erkennbar. Stille herrscht. Zwischen Grüntönen jeder Art im schimmernden Licht der tiefstehenden Sonne zeigen sich nach und nach Gesichter, Lebenswege, Freuden und Traurigkeit der hier begrabenen Menschen vor dem geistigen Auge. Und an einigen Stellen finden diese Bilder auch Namen, denn die Gravuren auf ein paar Grabsteinen sind noch lesbar, ja sogar noch sehr gut. Es sind deutsche Namen, Namen von Menschen, die hier im Memelland ein wohl hoffentlich erfülltes Leben leben durften.
Das Holzpförtchen zum Friedhof schließt sich wieder und hinweg über den hölzernen geschnitzten Rahmen, an dem früher die Pferde, die den Sarg zogen, festgemacht wurden, sehe ich Wim, unsere beiden Hunde und unser Wohnmobil, und spüre sehr viel Glück.
Reisen bewegt.