Brighton und Umgebung

26.06.2024 Mittwoch

Zeit zum Aufbruch, wir verlassen Rye. An dem von der Wiese führenden Weg gibt es eine Wasserstelle mit Trinkwasser. Wim erledigt noch V+E, bevor wir uns durchs Tor hinweg schleichen. Die letzten Blicke aufs schöne Rye, und auf der A259 nehmen wir Fahrt auf Richtung Hastings. Anlauf muss man wirklich nehmen, denn es geht fast ununterbrochen hinauf und hinab. Hätte ich so auch nicht vermutet. Der Straßenzustand ist häufig schlecht, die Breite der Fahrspur problemlos. Linkshalten ist keine Herausforderung mehr für Wim, irgendwie ist es schon gut drin im Kopf. 

Der „Aldi“ empfängt uns in Hastings, einer größeren Stadt, eines der alten Seebäder an der Küste. Mit dem Vorstadtverkehr kommen wir, obwohl er stark ist, gut zurecht, fließen mit. An der Seepromenade entlang knubbelt es sich allerdings kräftig. Eine Baustelle bringt alles zum Fast-Erliegen. Doppeldeckerbusse schlängeln sich hindurch, Ampelphasen dauern ewig, heiß ist es. 

Aber dafür entschädigen etwas die wahnsinnigen Fassaden der anliegenden Gebäude. Eigentlich sind sie überwiegend gut in Schuss, viele Etagen scheinen aber unbewohnt oder haben lappige Gardinen in den Fenstern hängen, die jeder Beschreibung spotten und in einem krassen Gegensatz zu den aufwändig verzierten Fassaden und schmiedeeisernen Brüstungen der Balkone stehen. Zwiespältig betrachte ich dieses Schauspiel der vorbeiziehenden fast lückenlosen pompösen Bebauung, während Wim unser Concördchen gelassen chauffiert. Gegen Ende der Promenade bleibt es sehr speziell, wenn auch etwas kleiner in den Ausmaßen. 

Unsere heutige Strecke ist knapp 80 km. Auf halber Strecke steuern wir in Pevensey, wo ein Lokal am Straßenrand Icecream for Dogs anbietet, ein altes Castel an, weil es fast umweglos an der Route liegt. In einem Seitensträßchen gegenüber „The old Corner House“ können wir parken und eine Runde durch die mauernumsäumten Ruinen der Normannen-Burg wandern. Hier hat sich in damaliger Zeit auch einiges ereignet, was die großen Infotafeln in Erinnerung bringen. Letztlich haben sogar Soldaten im 2. Weltkrieg die Ruinen genutzt.

Da der lauschig und einladend wirkende Castel Cottage Tearoom leider nicht geöffnet ist, geht die Reise flott weiter. Zum Teil ist es sehr hügelig und steil, höhere Bergrücken schieben sich ins Land zur Freude der Drachenflieger. Und plötzlich taucht parallel zur Straße ein echter tadelloser Radweg auf, der Hoffnung macht, dass er sich an der Küste an unserem nächsten Ziel fortsetzten möge, das wir über Newhaven und Überquerung des Flüsschens Ouve schnell erreichen. 

Direkt an der Küstenlinie liegt der Pub „The Tavern“, der auf dem hinteren Parkplatz kostenlos Übernachtungsmöglichkeit für Womos gegen Verzehr bietet. Die Lage ist bombastisch mit wunderbarem Blick auf die weiße Steilküste. Gestern hatte ich telefonisch Kontakt aufgenommen und quasi reserviert, war gut und ist empfehlenswert, da schon einige Plätze belegt waren, wir aber noch anrücken dürfen. Eine sehr steile Rampe hinauf muss das Concördchen schaffen. Es klappt nach Hochpumpen ohne Aufsetzen und Probleme. Am Rand klemmen wir uns hin, nichts auszusetzen. Die kleine Kuppe hinter dem Womo wird erstürmt und die Aussicht bewundert. 

Danach gehts zum ersten Bierchen auf die Pub-Terrasse. Der Besitzer ist freundlich, so etwas ein knurriger Typ, aber handzahm. Ab 17.30 Uhr sei die Küche geöffnet, einen Radweg bis Brighton gäbe es und wir sollten unbedingt auf unserer Reise den New Forest besuchen, einfach toll. Auch seine Kneipe ist toll, ein Deko-Freak mit Sammelleidenschaft scheint er zu sein, schimpft über die schlechte Leistung seiner Fußball-Mannen und präsentiert mir sein komplettes alkoholfreies Sortiment. Schön, hier sind wir gut aufgehoben. 

Und das bewahrheitet sich auch am Abend. Wir setzen uns in den Pub, bleiben nicht auf der Terrasse. Um die Theke herum sitzen mehrere Männer, Fußball läuft im TV, Georgien ist dabei, gegen Portugal zu gewinnen. Wir essen dann mal, Wim nimmt Tacco, ich eine amerikanische Platte. Das sind beides keine Wunschgerichte, aber für den Moment ok, da die Karte ohnehin sehr sehr wenig Auswahl bietet. Mit den Männern kommen wir irgendwann ins Gespräch, Chianga ist, wie so häufig hier in den letzten Tagen bei den hundeverrückten Engländern, der Aufhänger, aber die Männer scheinen froh, einen Aufhänger gefunden zu haben und trollen sich nach und nach heran an unseren Tisch. Das geht so weit, dass sie uns ein Bier ausgeben, in den Tiefen ihres Hirns ein paar deutsche Worte vorkramen, sich halbwegs dafür schämen, es nicht besser zu können, Fotos auf ihren Handys zeigen, von ihren Deutschland-Besuchen vorschwärmen, das Foto von der leckeren Schweinshaxe im Brauhaus raussuchen, die Currywurst hochlobend erwähnen und der Lokführer unter ihnen stolz berichtet, er sei schon mehrfach in Wuppertal gewesen, allein wegen der Schwebebahn. Einer berichtet, er habe vor vielen Jahren in Deutschland gearbeitet, ein Sprichwort sei ihm unvergesslich, was die Kollegen ihm damals beigebracht hätten, es sei aber wohl nicht so elegant: „Ficken und besoffen sein, ist des kleinen Mannes Sonnenschein.“ Ja sag mal … wir biegen uns vor lachen, und ich versichere, dass die deutschen Männer über die Jahre hinweg doch etwas ansprüchlicher geworden seien, was ich hoffe, oder täusche ich mich. Ein junger Mann kommt dazu, erzählt stolz, vor 10 Jahren als kleiner Junge mit seiner Tanzgruppe Deutschland besucht zu haben. Alle sind sehr mitteilsam, es ist total lustig und ein absolut gelungener Abend, so ganz nach unserem Geschmack. 

27.06.2024 Donnerstag

Vor einer Woche sind wir in Dover eingelaufen und konnten schon in den wenigen Tagen tolle Eindrücke in einem spannend schönen Land gewinnen. Vor einer Woche war das Wetter milchig diesig. Heute scheint es ebenso zu sein, denn durch die Dachluke blitzt kein Blau, es stürmt, sieht regnerisch aus, anders als all die Tage vorher. Gestern Abend zog schon ein Nebelschleier übers Meer, der sich noch nicht gelichtet hat. Radtour bis Brighton erscheint wenig ratsam. Wim und ich sind uns einig: wir ziehen weiter. Die Wetterprognose bei wetter.com sagt stürmischen Wind voraus, die der BBC ist um Längen besser, sie prophezeit sogar Sonne. Ist es doch nicht immer so, dass man mehrere Portale bemüht, bis man das Ergebnis gefunden hat, was einen zufriedener stimmt ;-). In unsere Überlegungen „stay or leave“ mischen sich plötzlich die ersten zaghaften Sonnenstrahlen, Dachlukenblau ist wieder da, obwohl es Richtung Westen grau schimmert und der Wind das Concördchen beutelt. Egal, wir bleiben und werden den geplanten Ritt bis ins rund 12 km entfernte Brighton und zurück wagen. Es ist einfach zu verlockend, Plan wird also nicht geknickt. Einen Tag durchblasen lassen wird nach der Hitze gut tun. Kaum ist der Anhänger aufgebaut, liegt Chianga auch schon drin, schließt die Augen nach dem Motto: „wenn ich mich schlafend stelle, brauch ich hier nicht mehr raus“. So begeben wir uns nach einem Foto auf der Klippenkuppe, bei der mir fast die Kamera weggefegt wird, auf die Radspur entlang der viel befahrenen South Coast Road. Der Wind ist richtig heftig, aber es läuft gut. Nach einem Stück wechseln wir von oben nach unten, d. h. wir nehmen im nächsten Ort Saltdean den steilen Cycleway nach unten zum Undercliff Cycleway und radeln nun sofort am Meer entlang. Aber das haben wir nicht gekannt. Ich nehme sofort mit dem Ausdruck allergrößten Bedauerns mein Gemaule über englische Radwege zurück und behaupte das Gegenteil, zumindest für hier und heute. Denn da tut sich etwas auf, mein lieber Scholli. Einer Landebahn gleich windet sich eine breite Betonbahn, begrenzt von weißen, zum Himmel hinauf strebenden Felswänden zur Rechten und einer gewaltigen Mauer zur Linken zur Brandung hin Richtung Brighton. Noch ist Ebbe, dunkles Gestein liegt frei und zieht sich zur Mauer hin, von Brandung nicht wirklich etwas zu spüren. Aber ein heftiger Wind weht, dennoch kein Vergleich zu eben auf dem Weg über die Klippen. Hier zwischen Beton und Fels geht es ruhiger zu. 

Bald kommt die Brighton Marina in Sicht, oder besser gesagt eine Anlage mit Wohnhäusern, eigenem Wasserzugang und vor Anker liegenden Booten und Schiffchen jeder Art. Es erinnert uns ein wenig an Port Grimaud, hier wirkt es aber etwas robuster und rauer alles, das französische Flair fehlt. 

Vom eigentlichen Yachthafen sehen wir vom Radweg aus nichts, aber bald schon werden wir über flammneue Stege mitten durch den weitläufigen Kiesstrand geleitet und die ersten noblen Gebäude und die Brighton Pier kommen in Sicht. Hoch oben ziehen sich die strahlenden Prachtbauten, zu ihren Füßen ellenlang die creme- und türkisfarbenen gusseisernen Torbögen, allesamt Zeugen vergangener glorreicher Epochen, wobei die bauliche Substanz eindeutig in besserem Zustand ist als die der Geländer. 

Bunt, kraftvoll und türkis geht es weiter. Es wird trubelig. Scharen von Menschen sind unterwegs, kleine und große, lahme und flotte, alle auf Suche nach dem ultimativen Spaß. Und dafür bieten die Brighton Palace Pier und Umgebung einiges. Da ist man wahrlich ausgestattet. Hier kann das Leben toben. Dafür sorgen Achterbahnen, Fahrgeschäfte und Food-Stände, Bars und Spielplätze, Leihfahrräder oder einfach nur die Möwen, die sich, scheinbar mit Adleraugen ausgestattet, Greifvögeln gleich auf alles stürzen, was ihnen gut tun könnte.

Bright, brighter, Brighton … könnte passen, wenn man die Bilder im Netz sieht aus Hochsaison-Zeiten. Die Stadt ist das größte und bekannteste Seebad des Vereinigten Königreichs. Häufig wird es „London by the Sea“ genannt wegen der Atmosphäre und der großen Anzahl von Besuchern aus London, die vor allem an den Wochenenden und während der Sommerferien an die Küste strömen. Man sagt, die kleine britische Stadt sei die kompakte Alternative zu London und vereine das englische Flair auf kleinstem Raum, und on top gibts den nie enden wollenden ellenlangen Strand. 

Ein Stück weit hinter dem Skelett der Brighton West Pier, die nur noch ein nostalgisches Fotomotiv ist, einst ab 1866 eine der stolzesten Seebrücken von ganz Südengland mit Theater- und Konzertsaal war, aber Opfer mehrerer verheerender Brände und Seestürme und von der Palace Pier quasi beerbt wurde, drehen wir um. 

Ein Highlight wollen wir uns noch gönnen. Dazu müssen wir uns von der Promenade weg in die Gassen bewegen. Stärkung ist allerdings zunächst angesagt. In einer lauschigen Ecke, an der schon seit Jahrhunderten gespeist und getrunken wird, serviert man uns einen echt leckeren Hamburger. Die Speisekarte weist unverschämterweise gleich auch die Kalorien der einzelnen Gerichte aus. Ob die Damen am Nebentisch sich darüber unterhalten? Kalorienzählen kann nicht so angesagt sein, denn viele sieht man, die eher zu viel als zu wenig mit sich herum tragen. Auch fällt, wie gerade jetzt wieder auf, dass die englische Frau im Kleid geht. Bunte Stoffe, vornehmlich florale Drucke, sind äußerst beliebt und werden beim Wandern wie beim Flanieren oder Speisen von Midi bis Maxi getragen. Und was das Bierchen für den Mann, ist wohl das Fläschchen für die Lady. Denn nicht nur hier fällt mir auf, dass die Damen sich gerne schon mal mittags etwas im eisgekühlten Kübel servieren lassen, was nicht nach Wasser aussieht. 

Aber weiter geht’s, und ums Eck liegt auch schon das Objekt unserer Begierde: The Royal Pavilion. Ein wenig Phantasia-Land, ein wenig Fata Morgana, jedenfalls nichts, was einem Spanisch vorkommt, eher Indisch. Die Stimmung rund um dieses Schlösschen ist wunderschön, die Nachmittagssonne wärmt, die Menschen sitzen zwischen bunten Blumenbeeten auf gepflegten Rasenflächen in Grüppchen zusammen oder schreiten verträumt auf den schmalen sandigen Pfädchen, die sich durch den großen Park schlängeln, fotografieren hier und da, bleiben einfach stehen, lächeln, genießen, begeistern sich an Kuppeln und Minaretten. 

Also haben die alten Mauern und Türmchen offensichtlich nichts von ihrer zauberhaften Wirkung eingebüßt, die die königliche Familie, der der Pavilion als königliche Sommerresidenz dienen sollte, aber irgendwann nicht mehr passte. Es fehlte ihr, so sagt man, im 1815 bis 1823 errichteten Bau die Privatsphäre im Seebad Brighton. Ursprünglich war dem nicht so. Denn der Prince of Wales mietete sich 1786 ein an Ort und Stelle stehendes bescheidenes Farmhaus als Liebesnest für sich und seine Mätresse Maria, das er ebenso wie das Umland ein Jahr darauf kaufte und im klassizistischem Stil erweitern ließ. Weitere Um- und Ausbauten folgten, Reitschule und Ställe wurden im indischen Stil ergänzt. 1822 erreichte das Anwesen seine jetzige Größe, glänzte fortan in der Art eines indischen Mogulpalastes. Im Jahr 1850 kaufte dann die Stadt Brighton die vom Königshaus verschmähte Residenz, die im Ersten Weltkrieg als Lazarett für verletzte indische Soldaten diente.  

Genug gesehen und genug durchgeblasen für heute treten wir mit der Erkenntnis den Rückweg an, dass wir dem Wetterfrosch der BBC mehr glauben können als dem von wetter.com. Zwischen hoch aufsprühender Gischt zischen wir an der dicken Mauer, die Wind, Wetter und Gezeiten trotzt, dahin auf diesem göttlichen Radlweg. Wieviele Tonnen Beton für diesen Schutzwall wohl angekarrt werden mussten? Jedenfalls ist es herrlich, absolut empfehlenswert für Windfreunde mit Rad, die mal eine Runde durch Brighton drehen wollen.

Und abends vergoldet Wim uns unseren ohnehin schon goldenen Tag mit einem Strammen Max, gesunde Version mit viel Grünfutter überm Schinken aus dem Black Forest. Farblich angenähert beschließt die Sonne, auch heute wieder faszinierend unterzugehen. Und morgen? Westwärts, soviel steht fest.

28.06.2024 Freitag

Heute morgen ist „bleiben oder fahren“ kein Thema, denn heute verlassen wir den tollen Fleck hier oben auf dem Cliff in Peacehaven. Der Morgen strahlt, Wind pfeift, aber die Aussicht kann ein letztes Mal genossen werden. Einen kleinen Gruß von uns mit ein paar tröstenden Worten, eingewickelt in ein Plastiktütchen, hänge ich zu dem Erinnerungsfoto von Ollie am Klippenwanderpfad. Vielleicht erreicht er seine Familie. Dann schwankt Wim im hochgepumpten Concördchen im Schneckentempo den steilen Stich vom Parkplatz hinunter zur Straße. Ich beobachte genau, ob wir aufsetzen könnten. Es geht gut, haarscharf gut, nichts schrammt, Asphalt heil ;-). Weiter geht‘s, immer weiter westlich.