Canterbury und Umgebung

20.06.2024 Donnerstag 

Wim meistert die ersten Kilometer ab Hafen Dover in Richtung Canterbury perfekt mit Unterstützung unseres Ersatz-Rüdigers, einem alten TomTom für PKW, wie prickelnd, merkt aber dann lachend an, er müsse sich jetzt mal etwas anders hinsetzen, unverkrampfter, der Rücken sei schon wie ein Brett. Alles entspannt sich, alles im Griff. Linksverkehr, wir sind dabei. Immer wieder fordern Schilder zum langsamen Fahren auf, interessiert aber offenbar niemanden, denn gerast wird auffällig. 

Zunächst führt uns eine normale Straße ins Land hinein. Nach Abbiegen zu unserem ersten englischen Ziel in einem kleinen Nest ändert sich das schlagartig. Sind es auch nur knappe 20 km, so haben die es in sich. Jeder Mitcamper weiß, wie sich 5 km ziehen können. Schieben wir uns nicht gerade auf schmalen Gassen durch dichtes Grün, dann durch kleine Kleckerortschaften. Zig mal muss einander das Passieren ermöglicht werden. Aber irgendwie passt alles aneinander vorbei. Auf dem kurzen Stück fahren wir an märchenhaften Häuschen vorbei. Da steht uns wohl etwas bevor. 

Gegen 13 Uhr rollen wir auf eine riesige, feste, kurz gemähte Wiese hinter einem Haus. Drei Zelte sieht man, sie sind aber dicht geschlossen. Scheinbar sind wir die einzigen Gäste. Die Betreiberin begrüßt uns freundlich, erläutert uns einiges, englische Konversation funktioniert ziemlich gut und der Austausch macht Spaß. Wir parken ein und zahlen vorab für 2 Nächte 50 £, was nicht gerade wenig und nicht angemessen ist, aber das soll der Stimmung heute keinen Abbruch tun.

Nach einem Kaffeepäuschen mit importiertem Streuselkuchen, bei bestem Sonnenschein und 20 Grad, rüstet Wim die Räder. Wir schwärmen aus. Im Ort versuchen wir Geld zu wechseln, was aber nicht glückt. Auch der Supermarkt führt leider keine Telefonkarten, dafür aber Verpackungen und lustige Waren. Aber sag mal, hier sind rundum nur Felder und ein paar Dörfchen, wo kommen all die Autos her, und brennen denen gerade die Bratkartoffeln an, weil sie so unglaublich rasen!? Im Örtchen sehen wir ungenutzte Fahrradständer, tja, hier radeln vermutlich nur Engländer mit suizidalen Tendenzen. Und wir natürlich. Ein Zuckerschlecken ist es nicht, nicht nur, weil auch für Radfahrer natürlich Linksfahrgebot gilt und wir sehr aufpassen müssen. 

Aber wir boxen uns durch und erwischen auf unserer ersten Runde auch ruhigere Zonen mit Äpfel- und Erdbeerplantagen, und vor allem Ansichten, die mich fast aus dem Sattel hauen. Schnuckelhausen vom Feinsten. Blumen, Blüten, Gehölze und Gewächse, ehrwürdiges und altehrwürdiges Gemäuer, einfach phantastisch, wie im Märchen. Und wir sind in diesem Land ja gerade erst am Anfang. Wim erkundigt sich besorgt mit Zwinkern, ob ich genügend Speicherplätze auf meinen diversen Gerätschaften habe. Schauen wir mal, dann werden wir sehen. Für die zwei alten Kirchen und den Rückweg reicht es heute noch. 

Abends, nachdem uns ein schnarrender Fasan besuchte, spielen die Dänen gegen die Engländer, die irgendwie absolut nicht überzeugen. Überzeugend, wenn auch grenzwertig scharf, ist Wims Gemüsepfännchen mit Hackbällchen und Reis, gelöscht wird danach gehörig. Und morgen gibt‘s Sandwich, wenn nichts dazwischen kommt. 

21.06.2024 Freitag

Über Nacht hat augenscheinlich die Population der Fasane stark zugenommen, sechs Großvögel grasen in Seelenruhe die komplette Wiese ab, picken hier und da, scheinen zufrieden und verschwinden irgendwo im Gebüsch. Abends werden sie sicher wieder zum Vorschein kommen. Auch der Straßenverkehr ist schon wach. Unser Platz liegt ja hinter einem Wohnhaus, dieses wiederum direkt an der Straße, dieser schmalen Landstraße, der A257, wobei „A“ natürlich nicht für „Autobahn“ steht, was der Engländer an sich scheinbar anders sieht. Man hört den Lärm deutlich. Obwohl die Nacht ruhig war, stört er tagsüber doch sehr. Na ja, Fasane und Ruhe? Man kann nicht alles haben. Heute bleiben wir noch, morgen geht‘s weiter. Und heute steht erstmal der Besuch eines Städtchens in 13 km an. Per Rad. Lebensmüde? Nein. Wir versuchen es. Über die A257 führt die Route, wir ziehen es aber vor, Umwege durch Wiesen und Felder zu nehmen. Die Gegend hier ist noch wenig durchschaubar für uns. Google maps zeigt schmalste „Streifen“ im Gelände, wohl Sträßchen, evtl. auch nur Feldwege, es gibt einige Kanälchen, kleinere Tümpel, da kann man erst eigentlich vor Ort sehen, ob und wie man mit Rädern und Hänger voran kommen kann oder nicht. Allerdings, so stellen wir fest, muss man sich ein neues Land wie immer erstmal näher bringen, muss sich eingrooven, Gegebenheiten wahrnehmen, verinnerlichen, probieren und versuchen, ehe sich eine entspanntere Selbstverständlichkeit entwickelt. Gestern dachte ich oft an Marokko. Meine Güte, die erste Tour, ja, ich sag immer „Marokko nimmt einen an die Hand - wenn man es will“. Aber da muss man sich herantasten, mutig, nicht zaudern, offen sein. Das funktioniert allerdings erheblich einfacher mit einer passierenden Dromedarherde auf sandverblasenem Asphaltbändchen im Mittleren Atlas und Winken eines strahlenden Hirten als mit ungebremst dahin sausenden Engländern im SUV, bei denen sich die ihnen nachgesagte „vornehme Zurückhaltung“ aber sowas von vermissen lässt. Unser heutiger Tag trägt also die Überschrift: „einwirken und eingrooven“. Ob‘s sich gut anlässt, werden wir erleben, und zwar in Sandwich. Das klingt doch toll … Sandwich … und eine damit einhergehende Besonderheit sehr lustig: Das Wort „Sandwich“ wurde im 18. Jahrhundert in die englische Sprache eingefügt. Hintergrund: Der 4. Earl of Sandwich, John Montagu, löste sich sehr ungern lange vom Spieltisch, um eine richtige Mahlzeit einzunehmen und verlangte stattdessen nach einer Scheibe Rindfleisch zwischen zwei Scheiben Brot. Zack, Wortfindung gelungen, die Klappstulle hat einen Namen. Einige Sandwich-Krümel könnte Chianga evtl. in Sandwich noch aufsaugen, in einem der besterhaltenen mittelalterlichen Städte Englands, so war zu lesen. Im 13. Jahrhundert war Sandwich Englands Haupthafen für den Export von Wolle. Im 15. Jahrhundert versandete aber der Fluss, die Stadt verlor den direkten Meerzugang, rückte quasi 3 km ins Binnenland, und der Handel zog entlang der Küste in die nächste Stadt. Pleiten, Pech und Pannen, Schicksale, die uns heute verschonen sollen, please! Wagemutig stürzen wir uns auf die A257, um sie nach paar Kilometern auch schon wieder zu verlassen. Grob die Feld- und Wiesenwege im Kopf, halten wir aber sicherheitshalber immer mal wieder an, sichten in Maps unsere Position und uns entsprechend aus. Es klappt. 

Bramling, Wingham, Staple, Woodnesborough, allesamt wunderschöne Dörfchen in der Grafschaft Kent, einen Steinwurf nur entfernt von Dover und so anders als alles, was wir bisher bereist haben. Es macht enorm viel Spaß und die Kilometer fließen nur so dahin, obwohl es hügelig rauf und runter geht und man gehörig auf den Straßenzustand achten muss, vor allem so dicht am Fahrbahnrand, denn da franselt es gewaltig. Links bleiben und links fahren scheinen wir bis auf minimale geistige Aussetzer verinnerlicht zu haben. Gut, dass wir mit Rad losgezogen sind. Zaudern und Zögern ist wie Klebstoff, bringt einen keinen Meter weiter und verhindert so tolle Eindrücke wie die heutigen. 

Und schon ist die Sandwich Road erreicht und führt uns directement ins Zentrum des mittelalterlichen Kleinods und durch eng verschlungene Sträßchen. Einen für mich typisch englisch aussehenden Mann mit zwei kleinen Hündchen frage ich, ob ich ihn fotografieren dürfe. Freudig willigt er ein. Man plaudert etwas. Er fragt, wo wir herkommen, Deutschland ist ihm zu ungenau. Und siehe da, er reist auch mit Womo, seine Frau und er besuchen so gerne Deutschland, kennen Trier, die Mosel, den Black Forest, waren am Bodensee und haben die Romantische Straße abgeklappert. Und nächstes Jahr ginge es wieder hin. Bei unseren Cornwall-Plänen lacht er und empfiehlt, eher die Gegend zu meiden, es sei alles tierisch eng. Kann sein, dass der Spruch „wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“ nicht der Weisheit letzter Schluss ist und Wim und das Concördchen an Grenzen stoßen. Wir werden bestimmt das ein oder andere be- und umdenken müssen. Aber auch das werden wir auf uns zukommen lassen, und was wir nicht sehen, nicht erreichen, das muss ohne uns zurecht kommen. 

An einem Besuch der Kirche kommen wir natürlich nicht vorbei. Gesittet und andächtig schreite ich durch das Portal und staune nicht schlecht: ein Trödelmarkt! Ja, der Kirchenraum wird genutzt, um schnöden Handel zu betreiben. Einen Moment bin ich irritiert, schlendere herum, fange eine englische Lady, die im Kaufrausch mit Arm voller Klamotten blöderweise eine Stufe übersieht, auf. Schnell erzählt sie mir, nachdem sie - nach ihrem Fast-Sündenfall - durchgeatmet hat, sie brauche eigentlich nichts, aber dieser Markt hier hätte so eine besondere Atmosphäre. Ja stimmt, wobei es mir beim Anblick der vor dem Hochaltar ausgestellten Couchgarnitur schon etwas komisch zumute wird. Da tut Frischluft gut, ist auch gleich ums Kircheneck von St. Peter zu finden, wo man im Schatten der heiligen Mauern lauschige Sitzecken, die gut besucht sind, hergerichtet hat, und wo einzelne Menschen Blumen an Gedenkstätten niederlegen. Sehr eigenartig alles, auch diese roten Kränze, die mir in der kurzen Zeit hier aufgefallen sind. Sie scheinen aus Plastik, mittig ein schwarzes Ding, das aussieht wie eine Törtchenform. Eine englische Familie klärt mich auf. Ja, sie dienen dem Gedenken, symbolisieren Poppies, also Mohnblüten, würden exakt in dieser Form und nur in Rot fabriziert. Froh, mir weitergeholfen zu haben, verabschieden sie mich. Es ist einfach herrlich, mit so locker flockigem „Denglisch“ mit den Menschen in Kontakt zu kommen. 

Wir erreichen den eigentlichen Eingang zur Stadt, die gesichert wird bzw. wurde von den Zwillingstürmen des Barbican Tors, 1539 erbaut, und damit sind wir auch schon am Ufer des River Stour. Viele Schiffchen dümpeln am Rand, Blumen schmücken die kurze Promenade. Ein 1952 in Deutschland gebautes Patrouillenschiff liegt vor Anker, mit dem die Amerikaner bis 1969 den River Rhine gesichert haben. Sachen gibt‘s. Wieviele Kilos Wolle mögen hier wohl in den ruhmreichen Zeiten der Stadt, die heutzutage drei der prestigeträchtigsten Golfplätze des UK aufzuweisen hat, ihren Weg über das Meer angetreten haben? Egal, uns ist jetzt nach Essbarem zumute. 

Die ersten Fish and Chips müssen her. Und da findet sich an der nächsten Ecke ein gut besuchter Laden gleich neben einer typischen roten Telefonzelle. Hinzu gesellt sich ein freudiger, hinter seiner Theke hervoreilender Betreiber, der sich als erstes erkundigt, ob Chianga ein Würstchen wolle, dann drauf los erzählt, welche Hunde er habe, aktuelle und gestorbene. Irgendwann lässt er unser Menü im Karton mit Papiereinlage anschleppen, darauf daumendicke Chips und ein riesiges Backfischstück. Vinegar wird nachgeliefert. Na dann wollen wir mal. Die Portion, es ist eine mittlere, schaffen wir nicht ganz. Lecker ist es, vor allem der Fisch, aber auch leicht langweilig, dafür sättigend, sehr sättigend. Wir finden eine Bank, tauschen € in £, erhalten sich seidig anfühlende Scheine, die noch nicht viel rumgekommen sind, und treten den Heimweg an. 

Beiläufig hatte ich gesehen, dass an der Route, zwar verbunden mit größerem Schlenker, ein Landhaus mit Garten liegt, das sehenswert sein soll. Das Wetter ist himmlisch, wir zwar mit Fisch-and-Chips-Kugel im Bauch, aber ansonsten gut beinander. Also Abbiegevorgang einleiten und immer schön links bleiben.

Mehrere Hügel und Täler später und „Sie haben Ihr Ziel erreicht“: Goodnestone Park Gardens. Von der Straße her absolut unscheinbar und nicht zu erahnen, erhaschen wir über einen Feldweg einen ersten Blick auf das House im Park, vermuten, dass sich das Begehrte hinter Mauern versteckt. In einem kleinen Café im Innenhof des Eingangs herrscht viel Betrieb, ebenfalls im angeschlossenen Restaurant. An langer Reihe sitzen feine ältere Herren mit viel Spaß zusammen. Die auf dem Parkplatz und in den Hauseinfahrten stehenden PKW passen von den Modellen her absolut dazu. Ich vermute, es ist das jährliche Treffen der Notarkammer Kent, kann mich aber auch täuschen. 

Wir erfragen, ob Chianga mit darf, aber selbstverständlich, so selbstverständlich, wie direkt im Eingang ein stilvoller gläserner Wasserspender mit Näpfen für Dogs bereit steht, an den Mauern Haken für Hundeleinen angebracht sind und die Speisekarte Würstchen für Dogs offeriert. Wir zahlen 18 £ und „Sesam öffne Dich“. Das 1704 errichtete großzügig bemessene Palladio-Landhaus, das nicht bewohnt scheint, erreichen wir zuerst. Weit und breit ziehen sich die Terrassen zum weiten Land hin. Ein riesiges Zelt steht für Festivitäten jeder Art im Park bereit, ebenso eine lange gusseiserne Tafel. Traumbild, das sogleich Gedanken an wehende Gewänder und dunkle Anzüge, üppigen Blumenschmuck, leise Musik und Small-Talk lostritt. Chianga wird positioniert, versieht wie immer lustlos ihren Dienst. Ach ja, unser Bazou, der war der Macker für Fotos, den konnte ich von weitem fotogen „andersrum“ bitten und mit „guck mal“ den wachen Blick locken. Aber Chianga, hockt meistens wie ein Häufchen Elend da, geschunden, flehentlicher Blick, ein Gremling, nichts mehr von Grazie zu sehen. 

Spielt aber keine Rolle, sie folgt, wie jetzt auch, treu und brav, ohne Eskapaden, immer verlässlich, und zieht mit uns nun durch den Wald des Parks. Urig belassen, aber deutliche Gärtner-Spuren zu erkennen, breitet er sich aus mit seinen riesigen Bäumen, zwischendurch immer mal perfekt gemähte englische Rasenflächen, kleine Lichtungen, aufgelockert von Wiesenblumen in breiten Streifen. Schmale verwunschene Waldpfade, der im 18. Jahrhundert angelegte sog. Serpentine Walk, führen uns in Bögen hindurch. Man kann lustwandeln, richtig wegtauchen in dieser Oase der Ruhe, bis zu den Momenten, wo einen das Staunen über wie Ur-Bäume herausragende Gehölze und Wohnblock hohe Handkerchief-Gewächse, die ich nur als Strauch kenne und die ihre weiße Blütenpracht wie Leintücher über einen zu werfen scheinen, zum Sitzen zwingen. Nur vereinzelt finden sich blühende Stauden, ein paar schattenliebende Hortensien und Fuchsien sehen wir. Bodendeckend welkt der Bärlauch vor sich hin. 

Irgendwo schreitet ein älteres Paar durch eine Bogenöffnung in der Mauer. Wim guckt nach, wo es da hingeht. Hinter einer hölzernen Tür tut sich dann was auf, was echt den Atem raubt. Ich beschreibe nun nichts mehr. Mögen die Bilder sprechen. Nur so viel: Wim kennt viele Gärten, auch englische, hat als Gärtner und Florist noch ein anderes Auge als ich, und sagt: „Mir kommen die Tränen, sowas hab ich noch nie gesehen, eine einzige Pracht!“. 

Natürlich begegnen wir dem ein und anderen arbeitenden Gärtner. Im 14 Hektar großen Garten, der über Generationen der Familie Fitzwalter angelegt und gepflegt wird und bis heute in Privatbesitz ist, gibt es vier fest angestellte Gärtner, die sich um den Wald, den ummauerten Garten, ein Arboretum, einen Kies-, einen Steingarten und einen Teich kümmern. Eine Dame der Familie lebt noch im Haus, hat sich zur Zeit, da so viel Nachfrage nach der Location für Feiern besteht, ins Nachbardorf geflüchtet. Interessant ist das Gespräch unter Gärtnern, ein Fachsimpeln. Sichtlich freut er sich über das Lob für seine Arbeit, es sei seine Passion, eine Freude für ihn, wenn Menschen sich dafür begeistern und daran erfreuen können. Auf unsere Frage nach Football lacht er, darüber sei er nicht amüsiert, er schäme sich schon fast, ein Spiel der Engländer anzuschauen, so schlecht seien sie. Wim gibt sich als Holländer zu erkennen. Ich singe nur: „The German takes it all …“. Kann man sich vorstellen, wie wir alle gelacht haben?

Und jetzt die Blüten-Serie für die Blüten-Freunde :-). 

Im Café ist glücklicherweise ein Schattenplätzchen frei. Die Anlage schließt bald, und wir genießen noch einen Drink vor Abreise. Was heißt einen Drink, ausgedörrt von Fisch and Chips zischen ein Cidre, ein köstlicher Apfelsaft mit Ginger und ein Liter Sparkling Water in uns hinein. Wieder gut durchtränkt und mobil, treten wir den Rückweg an und landen nach knapp 40 km, einer Stadtbesichtigung, einem Waldmarsch und einer Gartenlustwandelung wieder am Womo. Ohne Abendessen, nur mit einem Stück Gouda aus Holland, zwei Büchsen Bier und dem 0:0 Holland-Frankreich fallen wir ins Bett in der Hoffnung, uns morgen noch rühren zu können. 

22.06.2024 Samstag 

Erstaunlich zügig und fast ohne Gestöhne können wir dem Nachtlager entsteigen. Irgendwie haben wir die gestrige Strapaze mit den Klamotten ausgezogen. Schön, also kann der neue Tag kommen. Und es kommt auch was, denn zum einen knattert ein alter Traktor mit Mähmaschine herum und zum anderen rollt ein LKW heran, schwere Ladungen werden angeliefert, direkt neben uns wird Gestänge ausgelegt, riesige Haufen Planen gesellen sich dazu, mehrere Männer ebenfalls, und dann wird in die Hände gespuckt. Wim erfährt von der Betreiberin, dass einer ihrer Söhne heiratet. Das erklärt auch, warum nebenan im und am Haus der Betreiberin kräftig geräumt wird. Einiges Gedöns türmt sich nämlich rundum. Etliche Autos stehen zugewachsen herum. Zwei Wohnwagen sind abgestellt, die keinen guten Eindruck machen. Evtl. hat die Betreiberin das „Anwesen“ gerade erst gekauft oder ihr ist alles über den Kopf gewachsen. Wie dem auch sei, der Blick über die Wiese ist schön, hintenrum müssen wir ja nicht gucken und machen uns startklar zur Radtour nach Canterbury. Heute kommen die Helme aber auf die Rüben. Wir vergessen das immer. Aber hier ist es angebracht, wenigstens minimalsten Schutz anzulegen. Die Route führt nun in die andere Richtung als gestern. Wir nähern uns der ca. 10 km entfernten Stadt aber wieder abseits der Hauptstraßen, soweit möglich. Gewaltig aufpassen muss man. Radfahrer sind wohl hier Exoten. Fahren wir zunächst total am linken Rand, ändern wir das flott. Denn je näher man links bleibt, desto näher sausen die Autos an einem vorbei. Hält man sich mehr zur Mitte hin, müssen sie zwangsläufig gesitteter überholen. Es funktioniert, wobei man sagen muss, dass man als Radfahrer eher der abgepitschteren Fraktion angehören muss, will man heil irgendwo ankommen. Mehrspurig, einer Autobahn ähnlich, geht es irgendwann ins Zentrum von Canterbury. Ein Radweg deutet sich an, den vermutlich schon Queen Mum angelegt hat, sich aber um den Zustand nicht weiter kümmern konnte, und der nach einem Kilometer im Nirgendwo verschwunden ist. Ein weiterer ist ebenfalls Mogelpackung, auch er löst sich irgendwie in Wohlgefallen auf und man radelt wieder mittendrin.

Dennoch rollen wir unbeschadet ins Zentrum von Canterbury und tauchen ein in die alten engen Gassen mit den schönen Fachwerkgiebeln. Eine kleines Kirchenportal steht offen. Innen beten viele Menschen. Der Pastor grüßt und plaudert weiter mit einer Frau, die ein Hündchen auf dem Arm trägt. 

Wir stehen kurz darauf vor dem reich verzierten Portal, dem Christ Church Gate, ein 1517 erbautes Torhaus, durch das man zur „The Cathedral of Christ Church“  gelangt. Auf dem Weg hierher haben wir unbeabsichtigt wohl die richtige Abfahrt und Gasse erwischt. Was der Petersdom in Rom für die Katholiken ist, ist die Kathedrale von Canterbury für die Anglikaner. Mit dem Bau der Kathedrale, die jährlich von Millionen Besuchern bestaunt wird, wurde 1070 begonnen, abgeschlossen war er 1504. Von daher mischen sich steil aufragende Gotik mit Romantik, die allerdings beide zum Teil hinter Gerüsten und Planen versteckt liegen, allerdings den 75 m hohen Bell Harry Turm noch in ganzer Pracht zeigen. Wim wird mit Chianga warten, ich kann ein Ticket für 17 € lösen und die Besichtigung in Angriff nehmen und stelle dabei fest, dass auch Hunde mitgenommen werden dürfen. Wieder kaum zu glauben. 

Alles, was ich zur Kathedrale sagen könnte, sucht man sich besser aus Büchern oder Portalen heraus. Es ist für mich ein Muss, solch eine Stätte zu besuchen, egal wieviel Hintergrundwissen da ist oder nicht. Es ist jedenfalls unfassbar beeindruckend, in diesem im ganzen Land beachteten Prachtbau zwischen den enorm aufsteigenden Säulen zu stehen, zwischen denen in diesem Moment Orchestersmusik schwingt. 

Egal, ob man religiös ist oder nicht, lohnt es sich, einen Blick zu werfen auf die faszinierend schönen, im frühen Mittelalter geschaffenen Kirchenfenster, die Sarkophage und die Krypta. Alles ein Erlebnis. Und schmunzeln muss ich auch in die Totenruhe hinein über die hin und wieder zu Füßen liegenden Hündchen der verstorbenen Ehrenmänner auf deren Grabstellen. 

Am Ende meiner Sightseeing-Tour übersehe ich wohl einen Richtungspfeil und lande im Außenbereich, aus dem ich nur über Umwege wieder heraus finde. Aber Chianga und Wim warten geduldig auf einer Bank in der Sonne. 

Wir schlendern weiter herum, reihen uns ein in den Besucherstrom, der ständig zunimmt und legen eine kurze Pause in einem Pub ein. Kurz darauf erleben wir den ersten englischen Regenguss, kaum heftig und sehr kurz glücklicherweise. 

Eigentlich haben wir genug gesehen, aber eine Stelle fehlt noch. Es ist eine echt bemerkenswerte, die wir uns nicht entgehen lassen wollen. Also nochmal kurz Google befragen, maps sichten, und es ist lokalisiert. Um drei Ecken am Fluss im alten Weberviertel, in dessen Fachwerkhäuschen aus dem 16. Jahrhundert flämische Weber, französische Hugenotten und Färber lebten und arbeiteten, die vom europäischen Festland oft wegen religiöser Verfolgung nach England flüchteten, werden wir auf der Brücke fündig: der Ducking Stool, ein über dem Fluss schwebender Stuhl, der im Mittelalter als Hexendetektor diente. Kam eine Frau den Männern seltsam vor, so wurde sie auf den Stuhl gefesselt und bis über den Kopf ins Wasser gelassen. Ertrank die Frau dabei, war sie keine Hexe. Konnte sich die Frau befreien und davon schwimmen, war sie eine Hexe und wurde verbrannt. In späterer Zeit wurden untreue oder ungehorsame Frauen mit dem Stuhl im Wasser versenkt, aber nur solange, bis sie ihre Fehler und Missetaten zugaben und einsahen. Dritter Sinn und Zweck des „Tauchschemels“ soll gewesen sein, den stadtbekannten „gossips“ ihr freches Mundwerk zu stopfen, indem man die Klatschtanten zur Abschreckung kräftig in den Fluss tauchte. Eine ähnliche Folgermethode, das Waterboarding, wurde in den USA noch bis 2009 angewendet. Präsident Obama räumte aber damit auf. 

Und damit endet unsere Canterbury-Erkundung. Uns hat es sehr gut gefallen, auch das Beobachten der vielen unterschiedlichen Menschen, ihre Verhaltensweisen und Kleidungsstile. Im Vodafone-Shop kaufen wir eine Sim-Karte 1 Monat unlimited für 35 €. Der junge Mann berichtet mir strahlend, er sei in Minden geboren, seine Mama sei Deutsche, sein Vater damals bei der Armee in Deutschland stationiert gewesen, er spräche kein Wort Deutsch, habe sich immer dagegen gewehrt, was ihm mittlerweile sehr leid täte. Er freut sich daher, mich gut beraten zu können und versichert, dass ich diese Karte ohne irgendwo freischalten zu lassen einfach in meinen Router stecken könnte. Ich hoffe es, denn dann kann ich endlich das Reisetagebuch vervollständigen und Fotos einstellen. 

Über die „Autobahn“ geht‘s dann wieder zurück zum Womo, dem inzwischen eine prächtige Garage zur Seite gestellt wurde. Auch schön. Und Sim-Karte und Router verstehen sich auch, was bei unserem Router-Modell und meinen Kenntnissen nicht immer der Fall ist, wobei ich entschuldigend zu meiner Entlastung anbringen muss, dass sich unser RUT950 einfach nicht durch Bedienerfreundlichkeit auszeichnet und man sich durch ein Wirrwarr von Anleitungen und Masken fuchsen muss, dies täglich, damit es „sitzt“, machen sollte, was man ja aber zwangsläufig nicht tut, da man entweder nicht reist oder unterwegs froh ist, man hat das Ding soweit gebracht, dass es macht was es soll. Ach, das Leben kann so herrlich sein.