23.06.2024 Sonntag
Heute packen wir auf und peilen unser nächstes Ziel an. Gegen 11 Uhr rumpeln wir von der Wiese in Littlebourne nach einem freundlichen Plausch mit der Besitzerin. Wie so oft, bestätigt sich auch hier wieder: erstmal wird gemault, und hinterher war‘s doch schön ;-). Das bezieht sich jetzt auf den SP, gut, 25 £ ist schon ein Wort, aber für uns lag er perfekt, wir konnten einiges Schöne in der Nähe erreichen und hatten soweit unsere Ruhe, ein Holzhüttchen mit Dusche, die sehr gut funktionierte, gibt es und auch ein WC, sehr spartanisch alles, aber zum einen nutzen wir ohnehin nur unser Womo, aber wenn eine Dusche mal gut ist, ist etwas mehr Platz auch toll. Also sind wir zufrieden und machen uns vom Acker auf Straßen und Sträßchen, die sich ganz gut anlassen. Südlich um Canterbury herum nehmen wir die A28 Richtung Ashford, danach geht es über die A259 Richtung Rye und damit raus aus der Grafschaft Kent mit ihren auffälligen typischen Oast-Houses mit weißen konischen Turmdächern. In diesen Häusern, oder eher Speichern, wird der gegen Ende August geerntete Hopfen getrocknet, der ursprünglich im 16. Jahrhundert vom europäischen Kontinent nach England eingeführt wurde. Die konische Spitze der Dächer dient dabei als Lufteinlass, der sich immer in die Windrichtung drehen kann und so für nötige Ventilation im Speicher sorgt. Nach der Trocknung wird der Hopfen gepresst und an die Brauereien verkauft. Dann mal Prost und rein nach East Sussex. Die Landschaft wird flacher, Küstenland mit Tausenden von Schafen zeigt sich.
Hier wollen wir zunächst auf einen Strandparkplatz, um uns mal Meerwind um die Nase wehen zu lassen. Das Wetter ist einfach nur toll, richtig warm, es ist Sonntag, ja, überlegt hatten wir schon, dass das viele Engländer ausnutzen und einen Strandtag einlegen wollen. So ist es dann auch. Auf einem schon rappelvollen Parkplatz öffnet jemand ein großes Tor und wir dürfen einfahren. Nächtigen sei verboten, aber 8 £ Parkgebühr werden lt. Automat für 3 Stunden fällig. Der Automat ist kaputt, Mitarbeiter winken freundlich ab, wollen kein Geld, gut, dann ohne. Wir reihen uns ein in die Prozession von Menschen, die sich den sandigen Pfad die Düne hinauf schleppt. Wahnsinn, aber auch irgendwie interessant. Oben angekommen, tut sich nicht nur der Blick auf das blaue Meer auf, auch auf eine weite Dünenlandschaft mit Mulde an Mulde, wovon sehr viele schon belegt sind mit Menschengrüppchen. Unvorstellbar, in holländischen oder deutschen Dünengürteln so logieren zu dürfen. Wir entern uns eine Kuhle mit Überblick. Chianga leitet sofort das von ihr so geliebte Sandbaden ein.
Der Blick nach unten auf den Strand lässt nichts Gutes erahnen oder doch? Denn die Leute, die ein unfassbar vielfältiges Equipment zunächst nach oben, dann nach unten bugsieren, richten sich mit Wonne ein, bauen auf und breiten sich aus, und werden Spaß haben, das steht fest. Ich denke an Bernd Stelter, der vor Jahren einer seiner spaßigen Beiträge damit begonnen hat: „Alles fing damit an, dass der Aldi die Lichterketten im Angebot hatte …“. Ich bin mir sicher, dass hier in der Gegend der Aldi vor kurzem Windmuschel und Windschutz im Angebot hatte. Also was hier aufgeboten wird an derartigen Artikeln, unfassbar! Die folgenden Fotos sind aus unserer Anfangsphase, die Lawine der Strand- und Badefreunde nimmt im Verlauf der 2 Stunden, die wir dort verbringen, enorm an Fahrt und Masse auf. Nicht verebbend stapfen Menschen und Hunde jeder Farbe, jeder Gestalt mit allem Erdenklichen von Schlauchboot bis Drachen, von Klappstuhl bis Grill, von Surfboard bis Kühltasche, Kinderwagen, Handkarren, Zelte und und und durch den sehr feinen Sand und mühen sich ab auf der Suche nach einer Bleibe. Große Gruppen verschleierter Frauen sind dabei, englische junge Familien, ich hab noch nie so viele Tattoos auf einem Haufen gesehen. Untätowierte Haut ist deutlich unterlegen. Wir genießen den Blick auf all das. Irgendwie freut es mich, wie es ist. Und es ist einiges, was so ist, zu Wasser, zu Land und in der Luft. Der Mensch muss sich freuen, die Möwen auch, wo kommen wir sonst hin.
Nachdem wir uns durch den echt feinsten Sand und den übervollen Parkplatz wieder zurück gemahlen haben fahren wir ab, ein Warnwestenmann öffnet uns sehr freundlich das Tor, Parkgebühr wird nicht nachgefragt. Einen SP in 5 km auf einer Wiese bei einem Farmer wollen wir ansteuern. Ich rufe dort an, darum wurde gebeten, ja, kein Problem, wir können kommen. Aus dem Dünen- und Naturschutzgebiet geht es wieder raus, wir umkreisen ansteigend das Städtchen Rye, das wir morgen besuchen wollen, und tasten uns zur Farm vor. Langsam rollen wir auf das Gelände. Tatsächlich stehen 4 Womos schon dort. Engländer, die gerade speisen, begrüßen uns freundlich beim Vorbeifahren. Wir platzieren uns an der Pferdekoppel mit toller Rundumsicht: zur einen Seite Meerblick, zur anderen Wiesen- und Hügellandblick. Der Farmer kommt kurze Zeit später, kassiert 10 £ pro Tag, ist sehr freundlich und zeigt uns die Stellen zur V+E. Klappt.
Auch die Stühle, die werden ebenfalls sofort ausgeklappt, Ruhe kehrt ein, Sammeln ist angesagt, schließlich spielt Deutschland heute Abend ;-). Und auch die zutraulichen Pferdchen tragen das ihrige zum Gelingen eines perfekten restlichen Tages bei.
24.06.2024 Montag
Blauer Montag, richtig blau. Da lässt es sich gut planen, vor allem gehen Pläne auf. Also steht dem Besuch des kleinen Städtchens Rye nichts im Wege. Nur langsam kommen wir in die Gänge, aber es läuft nichts weg, auch hier nicht. Die wohl sehenswerten Häuschen des kleinen Flecken, dessen Burg wir gestern aus der Entfernung vom Strand her kommend auf einem Hügel gesehen haben, stehen seit dem Mittelalter, der Erdboden wird sie nicht plötzlich verschlucken. Man liest, Tausende Besucher erliegen jeden Sommer dem Charme, der um die Gassen zieht. An einem Montag früh im Jahr wie heute wird es sich hoffentlich in Grenzen halten. Kreuzfahrtschiffe können hier jedenfalls nicht anlanden, da auch Rye, wie Sandwich, nicht mehr direkt am Meer, sondern durch Versandungen ein paar Kilometer landeinwärts liegt. Von unserem Aussichtshügel lassen wir es hinab rollen, folgen der Hauptstraße ein Stück, biegen dann rechts ab zum Ortskern und landen sofort in einer der schönsten Gassen, aber auch einer steilen, der Mermaid Street. Chianga wird ausgeladen. Zu schlecht und kräfteraubend schiebt es sich mit unserem Bröckchen hinten drin trotz Daumengas über die sehr holprig gepflasterte Gasse. Außerdem brauchen wir alle Kraft zum Staunen. Wirklich zauberhaft schön säumen die historischen Fachwerkhäuschen die sich durch den Ortskern schlängelnden Gassen. Nicht wenige unter ihnen sind über die Jahrhunderte krumm und schief geworden. Viele tragen sehr lustige Namen, z. B. das Haus mit den zwei Haustüren.
Wir kommen zur Kirche. Eine Turmbesteigung ist möglich. Da diese eine gute Weitsicht verspricht, wird Wim nach Zahlung von 4 £ nach oben steigen. Für mich ist sowas nichts, gar nichts. Enge steile Stiegen in einem Turm verursachen mir Schnappatmung schon beim Gedanken daran. Das sind dann auch die - wenigen - Momente, wo Wim Fotos macht. Mit guter Beute kommt er zurück, begeistert vom uralten Glockenwerk über den Dächern von Rye, dem Uhrwerk der ältesten Turmuhr Englands aus dem Jahr 1561 und natürlich der herrlichen Aussicht auf das Naturschutzgebiet mit Seen und Flüssen und den English Channel.
Die Kirche selber, Church of St. Mary the Virgin, geht auf die Zeit der Normannen zurück und ist über 900 Jahre alt. Und diese ehrwürdige Kirche darf besichtigt werden, kostenlos, aber das Beste: „Dogs are welcome! (with their owners …)“. „Chianga-Mäuschen, willste mal mit Deiner Mama eine Kirche besichtigen?“ „Oh ja, wollte ich schon immer! Let‘s go!“ Wir zwei schauen uns den Kirchenraum an, irgendwie lebendig, mit großer Spielecke für Kinder, und starkem Blütenduft.
Wieder auf der Gasse geraten wir in diesem blumengeschmückten Puppenstubenidyll nochmal in die Mermaid Street und erspähen das Mermaid Inn, ein Etablissement mit sehr verruchter Vergangenheit, schwarz wie das sie tragende uralte Gebälk. Das Mermaid Inn mit seinen verborgenen Passagen und Geheimtüren war nämlich vor langer Zeit der perfekte Ort für die Hawkhurst-Gang, eine der berühmt-berüchtigsten Schmugglerbanden Englands, um sich zu treffen, Pläne zu schmieden und sich vor den Behörden zu verstecken. Im 18. und frühen 19. Jahrhunderts florierte in Südengland der Schmuggel. Verwunderlich ist das nicht, denn die von Armut geplagte Bevölkerung sah darin oft die einzige Möglichkeit, die hohen Steuern, die ihr auferlegt wurden, zahlen zu können. Beliebte Ware, mit der geschmuggelt wurde, waren Spirituosen und Tabak, aber auch Tee. Auf diese Produkte wurden hohe Steuern und Zölle erhoben, welche die Schmuggler umgehen wollten. Das Schmuggelgeschäft gehörte zum Alltag, und die Bande trieb ihr Unwesen. Letztendlich nutzten ihr auch die Verstecke im Mermaid Inn nichts, sie flogen auf, das Handwerk wurde ihnen gelegt, die Anführer, Arthur Gray und Thomas Kingsmill, wurden gefangengenommen und ihnen wurde der Prozess gemacht. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann … nein nein, bei meinem Gang durch die Gänge des verwinkelten Häuschens ist keine Spur der Gang zu finden, es sei denn, das beliebte Hotel mit Restaurant ist auch heute noch Teil eines Kapitels der etwas düsteren Seite der englischen Geschichte. Uns schmecken jedenfalls die Kaltgetränke im Außenbereich gut, verdampfen bei den heißen Temperaturen fast augenblicklich. Ein englischer Tischnachbar ruft plötzlich die Servicekraft heran, bittet sie, das Wasser in einem Hundenapf zu erneuern, kühles, frisches zu servieren und deutet auf Chianga. Blitzartig wird es Mylady vor die Nase gestellt, und sie genießt schlabbernd. Ein nettes Gespräch schließt sich an. Das Paar reist auch mit Motorhome, ist von Deutschland und den Stellplatzmöglichkeiten begeistert, und wieder wird die „Romantische Straße“ erwähnt. Sie scheint ein Top-Ziel der englischen Womobilisten zu sein.
Nach einem Rundgang um die Burg beenden wir den Punkt „Sightseeing Rye“ und sind wirklich froh, etwas sehr Historisches, Ursprüngliches, kaum touristisch Aufgerödeltes erlebt zu haben. Allzu schnell fallen einem doch bei „gepflasterten alten Gassen“ und „einem der schönsten mittelalterlichen Orte Englands“ irgendwie die Drosselgasse und Rüdesheim ein. Glück gehabt ;-).
Am Womo zurück zeigt sich eine ganz klare, unverhangene Aussicht auf das Meer. Ein paar Dampfer schippern herum auf dem Ärmelkanal, bevor der Abend in spektakuläre Farben getaucht wird und sich die Hündchen auf dieser Wiese hier oben, die von Anwohnern wohl auch zum Hundeauslauf genutzt wird, eine vergnügliche Runde bespaßt haben.
25.06.2024 Dienstag
„Fahrt nach England“, haben sie gesagt, „da ist es kühl, auch wegen dem Hund!“. Rye Hill, heute, gegen Mittag, 32 Grad. Ja, kühl ist anders. Aber auf dem Rad merkt man es sich so sehr. Wir treten wir geplant unsere Naturschutzgebiettour an. Gestern hatten wir zwar darüber nachgedacht, ob wir heute abreisen, aber das Fleckchen hier ist schön und ein auf dem Rad vertrödelter Tag wird uns gut tun. Es ist irgendwie unfassbar. Ich habe immer das Gefühl, schon viel viel länger unterwegs zu sein. Ich muss richtig die Tage zählen, um zu begreifen, dass wir noch nicht mal eine Woche hier sind. Der frische Wind auf dem Rad macht wieder Platz für neue Bilder im Kopf. Es geht abwärts in Richtung Rye Habour, vorbei am wegen Ebbe gerade trocken liegenden Flussbett des River Rother, in dem die kleineren Boote im Sand feststecken und auf Flut warten. Anschließend folgt ein Hafengebiet mit kleineren Industriehallen, nötig wohl, aber unschön für uns. Gleiches trifft auf die paar Meter Radweg zu, wobei „unschön“ viel zu harmlos ausgedrückt ist für diese holprigen, zugewachsenen Spuren. Private Gärten haben die Engländer, nagelscherengepflegt und dauerbehäckelt, alles vom Feinsten, aber wehe, es geht in die öffentlichen asphaltierten Bereiche. Wir haben bisher wirklich viele absolut marode Beläge befahren, von Radwegen ganz zu schweigen. Da können sie sich hier eine Scheibe von Marokko abschneiden, aber echt! Aber auch heute erreichen wir ohne Fünf im Rad ein paar Häuschen im sogenannten Hafen, nahe der Mündung des Flusses Rother ins Meer. Riesige Schiffe können hier nicht mehr wie im Mittelalter, als Rye noch eine wichtige Hafenstadt war, vor Anker gehen, heutzutage ist er Liegeplatz für Fischerboote.
Bemerkenswert ist eine Gedenkstätte, die einen schon von weitem anstrahlt, ein „Pebbel Memorial“, das an ein Unglück auf See im Jahr 1928 und an die 17 dabei ums Leben gekommenen Männer erinnert.
Ein Stückchen weiter dem Fluss folgend und vorbei am „Haus mit rotem Hut“ breitet sich nach rechts hin das Naturreservat mit sumpfigem Flachland, reichlich Tümpeln und Wasserrinnen aus. An der Flussmündung zieht sich am gegenüberliegenden Ufer, das man von hier aus nicht erreichen kann, Camber Sands mit seinem langgezogenen Dünengürtel und dem breiten goldenen Strand dahin, den wir Sonntag besucht hatten.
Wir folgen dem Weg nach rechts immer am Strand entlang. Hier findet man kein Sandkorn mehr. Breit und weit wellen sich grobkieselige Wogen zum Wasser hin. Tintenblaue Blumen strahlen mit dem Himmel um die Wette, auch gelber Mohn und Meerkohl scheinen kieselige Untergründe zu mögen. Man liest, 150 der hier im Rye Harbour Nature Reserve lebenden Tierarten zählen in Großbritannien zu den bedrohten Arten. Wir und etliche Besucher, auch einige wenige mit Rad, sehen kaum welche. Eine Gänsefamilie watschelt nahe am Zaun, ein paar Kormoran-Meuten lungern auf einer sandigen Zunge herum. Es ist nicht das Ebro-Delta, dennoch ein toller Ausflug.
Wir legen ein Päuschen am Strand ein. Wim bastelt einen Sonnenschutz für Chianga zusammen. Bei den Temperaturen ist es auch für sie im Hänger nicht prickelnd, aber jetzt genießt sie ihr Schattenplätzchen. Zum Meer ist ihr und mir der Weg zu weit. Die Hitze ist groß, ich würde gerne mal abtauchen, scheue aber den mühevollen Rückweg durch die Kieshaufen, suche stattdessen Muscheln. Viele Muscheln sind im Kiesgemisch, auch solche, die ich noch nie gesehen habe, eher wie Schneckenhäuschen mit Zipfel.
Bald kommt der nächste Ort Winchelsea in Sicht und eine günstig gelegene Bank, also wieder Pause.
In Winchelsea soll es Weinkeller, die aus dem Mittelalter stammen, geben. Für uns persönlich - zumindest heute - uninteressant, wir schmeißen uns lieber die 5 km nach Rye zurück in den Verkehr der Landstraße, ist interessanter, weil mehr Nervenkitzel. Im Supermarkt besorge ich noch ein paar Kleinigkeiten. Große Besonderheiten oder andersartige Artikel im Vergleich zu Deutschland finde ich nicht. Und dann geht‘s hurtig am alten Stadttor vorbei den Berg hinauf nach Rye Hill zum schattenspendenden Womo. Und morgen wechseln wir, auch wenn das Abendrot hier noch so malerisch ist.