von Tinghir nach Imilchil


Tag 75 - 30.03.2023 Donnerstag 

Wir sollen doch noch bleiben, wir könnten ruhig auch 14 Tage bleiben, was wir denn irgendwo anders machen wollen … eine der Töchter fleht richtig, aber in voller Lautstärke. Der schwarze Rüde schmust um mich herum, so ein sanftes Tierchen. Manno könnte ich ihn mitnehmen … Die deutsche Mitcamperin, die gestern dem Welpchen mit der Hand aufs Schnäuzchen geschlagen hat, als sie dazu kam, wie ich die beiden fütterte und einer der beiden kurz an meinem Bein hochsprang, lässt sich blicken. Selten habe ich solch eine dumme Doofheit erlebt. Musste ich mich doch von ihr belehren lassen, sie habe jahrelang Schäferhunde gehabt, diese erzogen, das müsse man tun. Ich habe ihr meine Meinung gegeigt, aber viel zu nachsichtig, weil ich derart von den Socken war. Heute tut es mir leid, dass ich mir sie nicht mal so richtig vorgeknöpft habe. Meine Güte, solch ein Huhn. Ich hab keine Worte, lasse es daher und ignoriere sie. Der Tag ist ohnehin zu schön, um ärgerlich hinein zu starten. 

Guter Dinge verlassen wir „unsere kleine Farm“ und nehmen Fahrt auf Richtung Todhra Schlucht, vorbei an dem Postkarten-Eselchen, das gerade wohl beschlossen hat, nicht mehr angebunden auf dem Aussichtspunkt zu stehen, sondern mit rausgerissenem Haken vogelfrei durch die Lande zu ziehen. Na denn. 

Die ersten Jeep-Konvois begegnen uns, ebenfalls Womo-Kolonnen. Ob die schon alle in Herrgottsfrühe durch die Schlucht sind, kann ja wohl nicht sein. Wir sind sehr gespannt, man sieht ja schon recht „enge“ Fotos im Netz von einzelnen felsigen Nadelöhren, durch die Womos sich hindurch fädeln. Wird schon klappen, wir haben Zeit und nur 130 km bis zum heutigen Ziel vor der Backe. 

Entspannt genießen wir die hübschen Häuser an der stetig steigenden Strecke und die unglaublich schöne Aussicht auf Berge, Dörfer und Palmen. Auch die mit bunten Tüchern behangenen Leitplanken machen sich sehr gut vor dieser imposanten Kulisse. 

Irgendwann scheint die Schlucht zu kommen bzw. wir zu ihr. Hoch ragt das Gebirge auf. Man kann den Verlauf der Straße nur noch ahnen bzw. denkt, es geht nicht mehr weiter. Aber da blinzeln schon die Händler raus mit ihrer fein säuberlich ausgestellten Ware. Ein breites Betonband teilt sich mit dem Flusslauf den wenigen Platz zwischen den steilen Felswänden. Herrscht keine Überflutung, ist es für alle mehr als ausreichend. Da passen schon viele Touristen und Händler hinein, PKW und Womos, Fahrräder und Mopeds. Heute morgen ist noch sehr wenig los, man hörte schon anderes. Wir haben also Glück, machen eine Mini-Pause, Chianga watet etwas, wir lassen uns von zwei Söhnen der Familie, also „der Familie“, begrüßen, die gerade in zwei PKW die Franzosen bespaßt und eine Schluchten-Tour mit ihnen unternimmt. Nach „Hallo“ und „Bonjour“ und Nachfrage, wo der Stier denn untergebracht ist, ziehen wir weiter. 

Locker flockig ziehen wir die Schlucht entlang. So schöne Bilder tun sich auf, eine sprachlos machende Naturgewalt hat hier was gezimmert. Harmlos schleichen Eselgrüppchen im Kiesbett bergan, Frauen, woher sie auch immer kommen, waschen in kleinen Wassergumpen ihre Wäsche, Ziegen und Menschen klettern waghalsig im Fels, einzelne Motorräder begegnen uns, gelegentlich ein marokkanischer Kleinbus … und, na … ja, die beiden Familienangehörigen überholen uns. Freude, Freude! Echt so lustig alles mit dieser „Sippe“. 

Ob es bei den Familien, die in ausgewaschenen Höhlen im felsigen Gestein hoch über der Straße leben, lustig zugeht, ist zu bezweifeln. Man kann sich aber irren. Solch eine Lebensart liegt jenseits unserer Vorstellungskraft. Wir schwanken zwischen Entsetzen, starker Bewunderung und totalem Mitleid. 

Ein LKW kommt entgegen, den wir glücklich und hoffnungsfroh passieren lassen. Unbekannte Schmalstücke verlieren doch an ängstigendem Potenzial, kommt solch ein Trümmer entgegen. Gleicht verliert der schon reichlich marode Asphalt seine Kraft, uns die Laune zu verderben. Aber er bessert sich auch schlagartig. Auf knapp 1900 m Höhe liegt ein Staudamm, daher auch die gute Straße. Wir umfahren die riesige Senke, die nur spärlich mit Wasser gefüllt ist. Ab da führt der Fluss wieder Wasser. Man sieht üppiges Grün, Ortschaften passieren wir. Aber da muss man angeschnallt sein. Meine Güte, die Straße, ein Dilemma. Schlaglochhopping vom Feinsten. Wir sind ja keineswegs unerfahren und haben uns schon um viele marokkanische Hausecken gedrückt, aber das hier, mein lieber Freund!

Aber „Hoher Atlas“ heißt auch „Hohe Nerven“, die hochzuhalten ist Schwerstarbeit in diesen Stunden, ja Stunden, denn für die 130 km brauchen wir tatsächlich fast auf die Minute 6 (in Worten: sechs) Stunden. Das Mini-Schluchten-Päuschen von 15 Minuten fällt da nicht ins Gewicht. 

Wild gelegentlich, ursprünglich, sehr ursprünglich, sehr sehr unsprünglich, unfassbar, zum Kotzen, unbeschreiblich, untragbar … so ähnlich würden wir die Route R703 und R317 beschreiben. Bei aller Liebe absolut schlimm! Nimmt man dann dazu die Kinderscharen, die ja in den zu passierenden engsten holprigen Dorfgassen schon Wegelagerei betreiben und gefährlich wild entschlossen das Womo begleiten, so nah, dass manchmal kein Blatt Papier dazwischen passt, dann ist die heutige Etappe nur bedingt ein Genuss. Steine fliegen auch wiedermal. Wir halten an bei einer der „Aktionen“, Wim steigt aus, macht Randale, Erwachsene kommen aus den Häusern, beteuern, ihre Kinder wären es nicht gewesen. Nun gut, wir haben uns dazu entschlossen, das künftig keineswegs schweigsam flüchtend zu akzeptieren. Nein. Es wird ausgestiegen, ob die „Täter“ weglaufen oder nicht. Sofern meine Kamera beim Anfahren nichts bewirkt und auch die Drucklufthupe, die übrigens sehr gute Dienste leistet, mal nicht greift und trotzdem Steine fliegen, dann sollen sie wenigstens merken, dass es Echo gibt. Der geneigte Leser merkt, wie unsäglich sauer und auch enttäuscht wir sind. Solch eine Aggression haben wir in all den Jahren nie und nirgendwo erlebt. Und es kann nicht angehen, dass man jetzt nur noch über Autobahnen und Überlandstraßen fahren kann. Ach ja … 

Frust stellt sich ein, Nerven liegen blank, verwässert werden die schönen Eindrücke, und der Asphalt wird und wird nicht besser. Wir turnen herum auf 2300 bis 2800 m, und die Kilometer ziehen sich wie Kaugummi. 

Sehr erfreulich ist, dass die Selbstversorgung der Menschen hier wohl funktioniert. Das Schwemmland um das Flussbett herum, das eingedeicht mit Lehm in kleinen Schleifen durch die Hochebene verläuft mit immer wieder abgehenden Wasserrinnen zu den Ackerflächen, wird in jedem Zipfel genutzt. Ordentlich sind die Gärten bestellt, überall wird geackert. Die Natur ist noch weit zurück, das Getreide nur erst niedrig da, die Obstbäume meist noch nicht mal ausgetrieben, nur gelegentlich steht einer in Blüte. 

Schweigsam erreichen wir nach Durchfahren von Imilchil den Lac de Tislit. Ihn trübt kein Wässerchen, obwohl ich nicht wusste, dass Tränen solch eine Farbe haben können. Türkis, eingebettet in die hohen Berge des Naturparks Haut Atlas, liegt er da, dieser Kratersee, den mit dem 9 km entfernten Lac d‘Isli etwas ganz Besonderes verbinden soll. Der Legende nach handelt es sich um zwei Liebende: Tislit, die Braut und Isli, der Bräutigam, die, aus verfeindeten Stämmen stammend, ihre Liebe nicht erfüllen konnten und mit ihren Tränen die Krater füllen mussten. Grund genug auch für einen der größten Märkte Marokkos, den „Hochzeitsmarkt“ in Imilchil, ein Moussem, auch ein religiöses Fest zu Ehren eines Heiligen der Berber, das jährlich im September gefeiert wird. Leuchtende Schneefetzen begrüßen uns, als wir um die Ecke kommen. Es ist immer noch warm, angenehm, aber ziemlich windig. Ein CP soll hier sein, nichts zu sehen. Wir nehmen eine Piste, was sonst, zum Seeufer hinab. Und Schluss für heute. 

Später gesellen sich noch zwei Kastenwagen dazu. Eine Schafherde zieht vorbei, ein Lämmchen kann nicht mehr, bleibt einfach liegen. Der Schäfer hebt es liebevoll auf, seine Mama eilt heran, Milchbar wird besucht, weiter geht‘s. So auch wir … morgen …